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Vor einem Jahr hat der Rechtschreibrat die Einführung eines ß-Großbuchstabens beschlossen. Der Streit um das neue Zeichen ist noch lange nicht zu Ende. Wenn der Ruf eines Buchstabens von seinem Wert beim Scrabble abhinge, könnte sich das scharfe S beziehungsweise SZ etwas einbilden. Vor kurzem hat die Firma Mattel, die den Spieleklassiker vertreibt, erstmals einen eigenen Buchstabenstein für das große SZ präsentiert. Er bringt, wo er zum Einsatz kommt, sechs Punkte; einen höheren Wert haben nur X, Y, Ö und Q. Ob und wann die im Handel erhältlichen Scrabble-Ausführungen serienmäßig um den neuen Stein ergänzt werden, will der Hersteller noch nicht verraten.
Die Entscheidung des Rechtschreibrats, der mit der Bewahrung und Weiterentwicklung der deutschen Rechtschreibung betraut ist, sorgt nunmehr „für die korrekte Rechtschreibung von Eigennamen in Pässen und Ausweisen. Ob sich der Gebrauch des großen ß durchsetzen wird, wenn die Spieleabende zu Ende sind, steht dahin. Im Duden heißt es, der Großbuchstabensatz sehe „traditionellerweise“ SS für ß vor, „fakultativ“ könne aber auch ein großes ß verwendet werden, also FUẞBALL statt FUSSBALL.
Friedrich Forssman, einem der renommiertesten deutschen Typographen und Buchgestalter, verursacht die Umstellung Unbehagen. Aus seiner Werkstatt stammt das Erscheinungsbild der revidierten Lutherbibel, daneben ist er unter anderem für das überarbeitete Reclam-Design und die Walter-Benjamin-Gesamtausgabe im Suhrkamp Verlag verantwortlich. Über das große ß sagt er: „Ich mag es nicht. Meine Abneigung gegen den Buchstaben bezieht sich vor allem auf seine Unerwartetheit.“ Er befürchtet, dass sich die Irritation auch mit zunehmender Gewöhnung nicht verflüchtigt und das große ß vielmehr ein „Daueranlass zum schiefen Grinsen“ bleibt. Als Typograph müsse er der „Hüter des Lesevorgangs“ sein, der Irritationen zu vermeiden sucht, um „tiefes Lesen“ zu ermöglichen, ein Versenken in den Inhalt, bei dem alle bewusste Formwahrnehmung in den Hintergrund tritt. Hier aber sei das große ß ein Lesehindernis.
Wo die Rechtschreibräte den alltäglichen Nutzen sehen, erblickt er die ästhetische Provokation. Wer dann aber einmal näher betrachtet, was der Computer ausspuckt, wenn man die Shift-, AltGr- und ß-Taste gleichzeitig drückt, muss zugeben: Das große ß wirkt seltsam klein geblieben. Was stört, ist eine gewisse Unentschlossenheit, als wäre es noch nicht ausgewachsen – der Oskar Matzerath des deutschen Alphabets sozusagen. Auf Twitter wurde bemerkt, es sehe aus wie eine sich übergebende Drei oder eine Drei „mit Saugnapf am Boden“. Tatsächlich ist das ß oder „Dreierles-S“, wie man im Schwäbischen sagt, ein deutscher Sonderling, aufgrund seiner Form international bisweilen „German B“ genannt.
Dass es als einziger der 29 Buchstaben im deutschen Alphabet nie als Großbuchstabe existiert hat (anders als die Umlaute Ä, Ö und Ü, die seit rund einhundert Jahren auch als Versalien vorkommen), hängt einerseits mit der Tatsache zusammen, dass es nie am Wortanfang steht. Andererseits mit seiner Entstehungsgeschichte, die bis heute nicht zweifelsfrei geklärt ist: Unstrittig ist, dass die linke Hälfte des Zeichens ein langes s darstellt, wie man es nicht nur im Deutschen bis ins zwanzigste Jahrhundert verwendet hat. Ob es sich bei der Form insgesamt aber um die Verbindung eines langen s mit einem Schluss-s oder aber um eine Verschmelzung von s und z handelt, ist so etwas wie die Gretchenfrage der Typographenzunft.
Gut möglich, dass beides stimmt: Auch englische, französische oder italienische Drucke haben in der Kursive ein ß gekannt – als Ersatz für ss. In den gebrochenen Schriften wie der Fraktur, die für das Deutsche lange die Standardschrift blieb, geht der rechte Buchstabenteil dagegen wohl entweder auf lateinische Abkürzungszeichen, die einer Drei ähnlich sehen (Dreierles-S), oder eben ein kleines z zurück. Zumindest ist das ß schon früh mit der Kombination aus s und z verbunden worden, was die Bezeichnung „SZ“ erklärt.
Als man im neunzehnten Jahrhundert damit begann, den für deutsche Drucke bis dahin gebräuchlichen Fraktursatz durch Antiquaschriften zu ersetzen (also von Schriften mit „eckigen“ Buchstaben auf solche mit „runden“ umzustellen), stellte sich die Frage nach dem Umgang mit der eigentümlichen Letter. Zunächst hat man ein aufrechtes Antiqua-ß geformt, auf einen entsprechenden Großbuchstaben allerdings verzichtet. Im Zuge der Normierung der deutschen Rechtschreibung um 1900 kam dann der Vorschlag auf, endlich auch ein großes ß zu schaffen. Die ersten Entwürfe finden sich bereits 1879 in der „Zeitschrift für Buchdruckerkunst“; sie wurden aber nie realisiert, weil Rechtschreibreformer und Drucker auf die Initiative des jeweils anderen warteten.
Bedarf für das große ß bestand offenbar dennoch, wie ein Blick in den Duden aus dem Jahr 1925 bestätigt: Die Ersetzung des ß im Großbuchstabendruck sei ein „Notbehelf“, man empfahl die Ersatzschreibung durch SZ: FUSZBALL. Nach dem „Normalschrifterlass“ von 1941, der die Fraktur als Druckschrift des Deutschen verbot, hieß es dann: „Der Führer hat sich für eine Beibehaltung des ß in der Normalschrift entschieden. Er hat sich aber gegen die Schaffung eines großen ß ausgesprochen.“
Dabei blieb es auch in der Nachkriegszeit. Während sich die Schweiz des eigentümlichen Zeichens nach und nach entledigte (als letzte Tageszeitung verzichtet die „Neue Zürcher Zeitung“ seit 1974 darauf), etablierte sich das scharfe S in Deutschland zumindest in seiner Form als Kleinbuchstabe fest im Alphabet. Die Umstellung von Fraktur auf Antiqua hat es ebenso überstanden wie die jüngste Rechtschreibrefom. Zur gänzlichen Emanzipation fehlte nur noch seine Anerkennung als Großbuchstabe. Die begann, als das Versal-ß 2008 in den UniCode-Zeichensatz – einen internationalen Standard für alle bekannten Zeichen vom griechischen Alphabet bis zum Emoji – aufgenommen wurde. Ein knappes Jahrzehnt später folgte die amtliche Bestätigung durch den Rechtschreibrat.
Kann man einen neuen Buchstaben einfach erfinden? Und wenn ja, wer ist dafür zuständig? Buchstaben sind verabredete Codes, die der Verständigung einer Sprachgemeinschaft dienen. De facto hatte diese das große ß längst erfunden, als sich der Erste damit behalf, das kleine ß in Ermangelung einer Alternative einfach in eine Großbuchstabenreihe einzufügen – ein Fehler, der dem unbedarften Buchstabenbenutzer allerdings nicht auffällt, weil das ß über die Höhe anderer Kleinbuchstaben hinausragt und darum unter Großbuchstaben nicht unmittelbar hervorsticht. Die Existenzberechtigung des großen ß in Frage zu stellen scheint also nicht zulässig. Das käme Friedrich Forssman auch nicht in den Sinn: „Die Frage, ob das scharfe S ein Buchstabe ist, ist mir egal.“ Ebenso gut könne man fragen, ob das W ein eigener Buchstabe sei oder nicht vielmehr eine Ligatur aus zwei V.
Forssman verweist auf die geringe Zahl von Anwendungsfällen: „Beim großen ß handelt es sich um eine Lücke, bei der ich mich frage, wer sie überhaupt empfunden hat. Wir brauchen es doch fast gar nicht.“ In den meisten Fällen lasse sich das ß problemlos durch zwei S ersetzen, sagt er und schlägt zur Demonstration seine Lutherbibel auf: Hier sind alle Überschriften in Versalien gesetzt. Passenderweise finden sich auf der Seite, die Forssman zufällig auswählt, gleich zwei Beispiele: Eines davon ist „Buße“, in Großbuchstaben „BUSSE“. Das Erscheinen motorisierter Straßenfahrzeuge würde zwar auch in der neusten Luther-Übersetzung niemand vermuten – für ein Moment der Irritation sorgt es trotzdem. So wenige Anwendungsfälle es auch geben mag, es sind doch potentiell besonders ärgerliche wie Familien- und Ortsnamen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass sich das kleine ß zwar ohne Probleme durch SS auflösen lässt, dann aber nicht mehr erkennbar ist, welche Entsprechung das in Kleinbuchstaben ausdrückt. Vom Reisepass bis zum Grabstein: Das scharfe S sorgt für Ärger.
Wo Pragmatiker auf die Probleme verweisen, die durch das Versal-ß gelöst werden, fangen für andere die Schwierigkeiten erst an. Die Formgebung des großen ß ist nämlich alles andere als einfach: Das neue Schriftzeichen soll aussehen wie ein Großbuchstabe, seine Verwandtschaft mit dem kleinen ß aber nicht verleugnen. Zudem soll es sich harmonisch in den Großbuchstabensatz einfügen, ohne wiederum Gefahr zu laufen, mit anderen Zeichen, etwa dem großen B, verwechselt zu werden. Diese Abwägungen gelten für jede gängige Schriftart immer wieder aufs Neue. Hinzu kommt die Frage, wie der neue Buchstabe in den Grundschulen gelehrt wird und ob ein großes ß überhaupt handschriftlich umzusetzen ist.
Die Verlegenheit hat Erik Spiekermann beschrieben, der Grandseigneur unter den deutschen Schriftgestaltern: „Ich mag die Idee eines großen ß, aber ich habe noch nirgendwo eine überzeugende Form gesehen.“ Das dürfte der Grund dafür sein, dass bislang nur sehr wenige der gängigen Schriftarten überhaupt über einen ß-Großbuchstaben verfügen. In der Regel sitzt man nämlich vor seiner Tastatur, tippt Shift, AltGr und ß und sieht: nichts. Man erinnere sich dann an die letzte Scrabble-Partie und an Friedrich Forssman: „Tiefes Lesen geht nur, wenn der Text unsichtbar ist.“