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Anton, ein 13-jähriger Junge aus Prypjat, der 1987, ein Jahr nach Tschernobyl, in die fränkische Provinz kommt, wo man sein Schachtalent entdeckt; Igor, sein gleichaltriger Freund, beide unzertrennlich wie siamesische Zwillinge; Simon, der Sohn der Gastfamilie, der dreißig Jahre später das wieder verschwundene damalige Wunderkind Anton sucht, nachdem Igor überraschend als Schachgroßmeister aufgetaucht ist – das sind die Akteure im Debütroman des Regisseurs und bildenden Künstlers Benjamin Heisenberg. Der 48-Jährige collagiert in „Lukusch“ Textsorten und kombiniert Genres, er arbeitet mit zahlreichen Fotos, veranstaltet ein smartes erzählerisches Vexierspiel, das die Lektüre zum großen Vergnügen macht.
Sie machen es kompliziert. Auf dem Buch stehen „Roman“ und Ihr Name, und dann werden Sie im Vorwort als Herausgeber eines Konvoluts von Texten und Bildern Teil der Fiktion.
Es ist ja ein erster Roman, der vom Autor in einer Aneinanderreihung von Kurzgeschichten geschrieben ist. So wechseln auch die Perspektiven der Charaktere, aus der Lust, am nächsten Tag aus der Sicht einer anderen Figur zu erzählen und für jeden Charakter eine eigene Erzählhaltung zu entwickeln. Der Rahmen dafür ist meine Herausgeberschaft, auch weil der Ich-Erzähler Simon Ritter ist und nicht ich selbst es bin, obwohl es von mir als Herausgeber autobiographische Anteile im Text gibt. Dieses Verwirrspiel ist Teil des Konzepts.
Und dann haben Sie auch noch ein Video zum Roman gemacht!
Das Video kam danach. Es ist Teil einer Arbeit für eine Ausstellung, die gerade entsteht. Sie soll am Ende wie die Wand eines der Kommissariate wirken, die man aus Krimis kennt. Eine visuelle Spurensuche mit Bildern von Menschen, Tatorten und Ereignissen. Das Video funktioniert wie ein filmischer Beweis. Gleichzeitig erzählt es die Genese der Bilder im Buch, die aus sehr interessanten Anteilen zusammengesetzt und bearbeitet wurden.
Was war denn die Initialzündung für den Roman?
Das Projekt ist schon sehr alt. Es fing an mit einer Kurzgeschichte, die ich im Filmstudium um 1997 geschrieben habe. Mit ein paar Änderungen kann man sie im Roman, im Kapitel „Das waren die achtziger Jahre“, lesen. Dann habe ich noch im Studium mit Christoph Hochhäusler und jetzt 25 Jahre später mit Peer Klehmet daran gearbeitet. Es ist also ein Filmprojekt, das zuletzt durch Anregung von Peer zu einem Buch wurde.
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War das ein besonderer Reiz, in einem anderen Medium etwas auszuprobieren, das im Kino sehr kompliziert gewesen wäre?
Absolut. Es folgt auch einer Linie in meiner künstlerischen Arbeit, in der von Anfang an die Verbindung zwischen Text und Bild elementar war. Im Grunde bin ich so erst zum Film gekommen. Ich hatte mich im Studium mit Umberto Eco und der Semiotik auseinandergesetzt und dann ein erstes Video gemacht, das Symbole und Text kombinierte. Es gibt Texte, die auf Bilder reagieren und vice versa, und ich stelle im Buch auf diese Weise eine Fiktion her, die gleichzeitig viel mit meiner Herkunft aus Franken und anderen Erlebnissen und Menschen meines Lebens zu tun hat.
Das große Bild oder Thema hinter dem Roman ist Tschernobyl. Sie sind Jahrgang 1974, wie die Protagonisten, Sie waren zwölf Jahre alt, als die Reaktorkatastrophe passierte. Woran erinnern Sie sich?
Die Katastrophe war schon damals sehr eindrücklich für mich, weil sie bis in unseren Alltag hineinreichte. Man durfte plötzlich keine Pilze mehr essen, und es gab ein starkes Bewusstsein für diese unheimliche Gefahr, dass eine tödliche Wolke zu uns herüberzieht. Außerdem war es eine Erfahrung von krassem menschlichem Versagen. Mein Vater zitierte damals immer die Formel: „Risiko ist Wahrscheinlichkeit mal Auswirkung.“ Der Satz ist mir geblieben. Selbst wenn ein Unglück wahnsinnig unwahrscheinlich ist, muss man bei den gewaltigen Auswirkungen das Risiko anders bewerten. Und es gab natürlich die Kinder, die Tschernobyl-Flüchtlinge, teilweise in meinem Alter. Die Erinnerung an sie und ihre Geschichten war später ein Anlass, diesen Stoff zu schreiben, neben dem Interesse an dieser seltsamen Rise-and-Fall-Geschichte, in der jemand wie der kleine Anton Lukusch aus dem Nichts kommt, durch seine Schachbegabung ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gezogen wird und dann wieder sang- und klanglos verschwindet. Das hat mich sehr fasziniert. Die Krimianteile und das Ende sind erst später dazugekommen, und viele Puzzleteile des Romans sind Fundstücke. Zum Beispiel das Bild des toten Igor im Aufzug basiert auf dem Foto eines Fahrstuhls, das ich 2014 in Kiew gemacht habe.
Seit ein paar Monaten hat sich unser Blick auf die Ukraine durch Putins Krieg verändert. Lässt das Ihre Geschichte unberührt?
Das hat mich natürlich sehr beschäftigt, weil es ja in der Kriminalgeschichte auch ukrainische und belarussische bad guys gibt. Aber die Antagonisten sind recht ausgeglichen zwischen Ost und West verteilt, und ich habe noch mal mehr darauf geachtet, niemanden auf banale Weise zu dämonisieren. Aber ich denke, diese Anteile des Romans berühren die heutige Situation des Krieges kaum.
Es gibt immer mal wieder einen Flirt mit dem Übernatürlichen, mit Telepathie und Parapsychologie. Wie ernst ist das?
Ich lebe ja in der Schweiz, wo, in meinen Augen, das Bewusstsein für die Anteile des Lebens, die weit über ein wissenschaftliches Weltbild hinausgehen, stärker verbreitet ist als in Deutschland. Als Erzähler haben mich diese Phänomene immer in ihrer Beziehung zu Psychologie und Religion beschäftigt, auch weil ich selber einschlägige Erlebnisse hatte. Als total rational und wissenschaftlich erzogener Mensch hat mich das dazu inspiriert, ein bisschen über diesen Horizont hinauszusehen. Dazu gefiel uns, als wir noch über einen Film nachdachten, dieses klassische Marvel-Motiv, dass ein Held durch einen atomaren Unfall besondere Fähigkeiten erwirbt.
Erstaunlich, Ihr Großvater ist immerhin der weltberühmte Physiker Werner Heisenberg!
Wobei der auch erstaunlich spirituelle Dinge gesagt hat. Es gibt zum Beispiel dieses Zitat: „Der erste Schluck aus dem Glas der Erkenntnis macht atheistisch, aber am Boden des Glases findet man Gott.“ Oder so ähnlich. Ich glaube, er war also, wie viele Wissenschaftler, gar nicht so ungläubig.
Es gibt ja auch einige dunkle Stellen im Buch, schicksalhafte Fügungen, rätselhafte Quellen.
Es gibt Telepathie, ja, und eine Art paranormaler Verschränkung. Einige Dinge bleiben ungeklärt, auch weil es ja die unvollständige Materialsammlung von Simon Ritter ist. Und wie in fast allem, was wir aus den Medien und aus Büchern erfahren, gibt es viele Lücken, die wir selber mit Vermutungen, Vorurteilen und Wünschen füllen.
Ein wiederkehrendes Motiv sind auch die aus heutiger Sicht eher bescheidenen medialen Inszenierungen, Anton tritt bei „Wetten dass . . ?“ auf und ist zu Gast bei Kohl im Kanzleramt.
Ich liebe diese Gegenstände der Welt meiner Kindheit in den Achtzigern und fand es interessant, eine kleine Technik-, Mode- und auch Rezeptionsgeschichte mitzuerzählen, mit dem Schachcomputer, den Nike Air oder dem kleinen Nintendo. An dem „Wetten dass . . ?“-Auftritt gefiel mir auch, dass ja die gleiche Frage wie im ganzen Roman gestellt wird: Kann dieser kleine Junge das wirklich, und wie sehr glauben wir an ihn? Auch in den Bildern des Buches steckt ein ganzes Geflecht von Bezügen, die man vielleicht erst beim zweiten Blick oder gar nicht bemerkt. Zum Beispiel gibt es dieses Bild von Igors Bruder Misha mit Antons Mutter, er im Anzug, sie im Kleid. Darin stammen Körper und Kleidung aus einem Foto von meiner Schwägerin und mir bei einem Filmball in Wien, aber das Gesicht des Mannes ist das eines russischen Spions in Amerika. Das Gesicht von Igor bei dem Turnier auf einer Schach-Website ist zusammengesetzt aus einem Gangster aus dem Chicago der Dreißigerjahre, einem russischen Mafioso und einem Bild von mir selbst.
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Imitieren Sie da nicht den Algorithmus einer Software, die synthetisch Gesichter von Menschen erzeugt, die es gar nicht gibt?
Diese Deep-Fake-Thematik interessiert mich schon lange. Den Fotos im Buch sieht man teilweise an, dass sie bearbeitet wurden. Sie wahren die Realitätsillusion, aber ich habe bewusst nicht alle Spuren verwischt. Dieser Spagat interessiert mich: Die Illusion bleibt erhalten, spielt aber in ihrer Brüchigkeit auch darauf an, wie tief wir heute in scheinbar Dokumentarisches eingreifen können. Das mache ich auch in meiner Malerei so. Die Motive der Bilder stammen zu großen Teilen aus Fotos, aber ich lasse immer die Bearbeitungsfehler offen im Bild stehen, sodass die Fehlerhaftigkeit dieses Prozesses im Blick bleibt.
Sie bewegen sich schon lange zwischen den Medien und Kunstformen, von der Bildhauerei über Filme und Videoarbeiten bis zum Roman. Nicht zu vergessen, dass Sie auch Mitherausgeber der Filmzeitschrift „Revolver“ sind. Was suchen Sie dabei?
Es ist eine fortwährende Suche danach, was mich anspricht und wozu ich vielleicht etwas zu sagen habe. Das verschränkt sich zwischen Film und bildender Kunst und dem Schreiben. In „Schläfer“ habe ich Aufnahmen mit dem Teleprompter genutzt, die ich vorher in einem Video entwickelt hatte. Aus dem Casting zum „Räuber“ habe ich später ein Video für eine Ausstellung geschnitten, und in der letzten Ausstellung, „Americana“, habe ich ein gemaltes Triptychon mit einer fortlaufenden Geschichte als Text im Bild gezeigt und diese Bilder dann anschließend wieder verfilmt. Auch Sequenzen aus Hitchcock-Filmen habe ich für diese Ausstellung Bild für Bild bearbeitet und zu neuen Geschichten zusammengebaut, als handle es sich um ganz unbekanntes Found Footage.
Hat die Vielfalt Ihrer Arbeiten damit zu tun, dass Sie sich schnell langweilen? Oder mit dem Ungenügen an der Begrenztheit einer einzelnen Ausdrucksform?
Wahrscheinlich beides. Mich beschäftigen Dinge, auf die ich durch komische Zufälle im Alltag stoße. Manchmal bearbeite ich sie auch gleichzeitig in verschiedenen Medien. Aber es gibt auch fortlaufende Themen wie die allgegenwärtige Überwachung und Digitalisierung oder die Vererbbarkeit von Traumata und Schuld. 2015 kam ich auf dem Weg zum Supermarkt immer an einem Münzkontor vorbei, und mir fiel auf, dass afrikanische Geldscheine, obwohl von den Ländern selbst gedruckt, total kolonialistisch wirkten. Daran merkte ich, dass meine eigene Prägung kolonialistisch war und wie wenig ich wusste über Afrika. So entstand zuletzt eine ganze Ausstellung mit großen und kleinen Collagen aus den Scheinen unterdrückter Länder und denen ehemaliger Kolonialmächte.
Die Beschäftigung mit der Genese von Bildern, Ihrer Produktion und Prägekraft – ist das Ihr zentrales Motiv?
Ich habe 2020 bei der Transmediale einen kleinen Vortrag gehalten über die Fragmentierung unserer Wahrnehmung der Welt durch die Medien. Wenn wir uns anschauen, wie Google Maps aufgebaut ist, dann ist das eine Kombination aus aneinandergesetzten Fotos. Wenn man in den Streetview-Modus wechselt, fangen die Bilder an, sich zu verschieben und zu verzerren, wie der Blick in einen Farbtunnel. Ein großer Teil der digitalen Weltwahrnehmung baut auf Teilen von Filmen oder Fotos auf. Wenn man das weiterdenkt, kommt man zu der Frage: Was kann ich noch wahrnehmen, wenn alles aus Stücken zusammengesetzt ist, wie die Stücke an Information, die wir aus tausend Nachrichtenkanälen bekommen?
Das Kino hat seine Ausstrahlung verloren, es ist längst nicht mehr visuelles Leitmedium oder prägend für unseren Blick auf die Welt. Haben Sie sich auch deshalb anderen Arbeiten zugewandt?
Jein. Es ist tatsächlich immer schwieriger geworden, bestimmte künstlerische Projekte im Kino zu finanzieren. Und ich spüre diesen unglaublichen Wandel, dass wir 24/7 mit Bildern leben. Das ist ein großer Einschnitt. Wir leben in einer Zeit des visuellen stream of consciousness, des Bewusstseinsstroms. Ständig speisen wir Bilder in unterschiedliche Netze ein. Das Kino fällt da in eine ganz andere Welt. Es ist viel mehr noch als früher zu einem Ort geworden, für den man sich mit viel Aufwand entscheiden muss. Sich zwei Stunden lang so ausschließlich auf etwas zu konzentrieren ist nicht mehr selbstverständlich. Es wird überall im Alltag so viel geschaut, dass die Kapazitäten schrumpfen. Das Kino hat, glaube ich, seinen Zenit als prägendes Medium eines gesellschaftlichen Wandels überschritten.
Was kann es noch leisten?
Die Intensität, mit der man sich auf eine Erzählung einlässt. Das Kino ist im Unterschied zum Streamen immersiver und beflügelt die Phantasie viel stärker als Tiktok und Instagram. Die sozialen Medien sind vor allem Zeitvertreiber, sie vertreiben Langeweile sehr gut. Das ist lustig und cool, aber etwas anderes als eine Erzählung, der ich mich ganz anvertraue.