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Frankfurter Anthologie

Hanns Cibulka: „Dornburg“

Von Jan Röhnert
21.08.2020
, 17:00
Wie erfasst man die Seele einer Landschaft? Hanns Cibulka beschränkt sich mit knappen Versen auf das Wesentliche und drückt damit aus: Die Zukunft liegt im Verzicht, nicht in der Fülle.

Es gebe, schrieb der französische Autor Julien Gracq hinsichtlich der räumlichen Vergegenwärtigungskraft von Literatur einmal, zwei Arten von Schriftstellern: die kurzsichtigen und die weitsichtigen. Die kurzsichtigen seien die geborenen Erzähler und Romanciers mit einem Faible für Innenräume, Gegenstände, Psychologie. Die weitsichtigen jedoch würde es nach draußen drängen, ins Weite und Offene, auf die Bergkämme, Hochebenen, Grenzpässe und erhabenen Punkte hinaus, von denen sich der Horizont überblicken und abstecken lässt. Hanns Cibulka zählt nach dieser Definition eindeutig zu den weitsichtigen Autoren. Die Landschaften, die er beim Wort nahm, hat er nach allen Himmelsrichtungen hin abgeschritten und gleichermaßen geographisch wie geologisch exakt und sinnlich transzendent vermessen. Er hatte ein Auge für den Charakter und das Spezifische eines Ortes, seine historischen und kulturellen Tiefendimensionen.

Was immer er schrieb, ist von Landschaft beseelt, egal ob es sich um Böhmen, Sizilien, Umbrien, die Insel Hiddensee, das Schloss Großkochberg – oder eben Dornburg in Thüringen handelte: „... die topographische Lage der Dornburger Schlösser ist ungewöhnlich für den mitteldeutschen Raum. Sie liegen auf einem mächtigen Kalksteinblock, zusammengedrängt, wie Vogelnester an den Felsen geklebt, ganz auf sich gestellt, hart am Abgrund der Wand. Die ganze Anlage mit ihren horizontalen Terrassen, den beschnittenen Laubwänden, dem Rosengarten, dem sonnengelben Fels, das alles erinnert mich an die Landschaft in Umbrien ... Die geologische Struktur dieser Landschaft ist immer in Bewegung, wird schnell und gründlich vom Wetter zernagt. Hitze und Frost, Gewitterregen, Nebel und Schnee, alle Unbilden der Witterung werden von dem porösen Kalkstein aufgesogen... In einer solchen Gegend können die Urlauber keine Initialen in die Kalksteinwände einmeißeln, um das Fremdenbuch der Landschaft durch ihre Namen zu verschönern, diese Steine zerbröckeln bereits unter dem Fuß.“

Die Wahrhaftigkeit der Landschaft

In der Geologie entdeckt Cibulka die Psychologie einer Landschaft, schreibend versetzt er sich am Goethe-Ort hoch über der Saale ins transparente Licht Italiens zurück, wo er während des Krieges als Soldat und noch einmal 1959 gewesen war. Das war im Jahr 1974, als die hier zitierten „Dornburger Blätter“ erschienen, in deren Umfeld auch das Gedicht entstand, vom Boden der DDR aus nicht mehr ohne weiteres möglich. Die selbstgewählte Beschränktheit der Provinz war wohl der eleganteste Weg für Cibulka, sich möglichen Gängeleien und Bevormundungen durch die Staatsmacht zu entziehen und der Doktrin vom sozialistischen Realismus sein Ideal eines ideologieresistenten, humanistisch verbürgten Schreibens entgegenzusetzen. Die seit 1980 sich formierende Friedens- und Ökologiebewegung der DDR verdankt ihm wichtige Impulse, heute lohnt es sich, seine Prosa vor dem Hintergrund des nature writing neu zu entdecken.

„Wenn der Äther, Wolken tragend, / Mit dem klaren Tage streitet, / Und ein Ostwind, sie verjagend, / Blaue Sonnenbahn bereitet“, hatte Goethe im September 1828 in seinem berühmten Dornburg-Gedicht geschrieben, auf welches sich Cibulka mit der „blauen Farbe des Windes“ in seinem Dornburg-Gedicht bezieht. Goethe hatte während des Aufenthalts in Dornburg eine nach dem Tod Herzog Carl Augusts einsetzende Lebenskrise durch umfangreiche naturkundliche und kunsthistorische Studien zu überwinden gesucht; Cibulka findet in den „alten Zeichen“, der Geologie des Muschelkalks, der südlichen Weinkultur und dem „Sonnendach der Esche“ ein Refugium gegen die Zumutungen seiner Zeit. Im ländlich einsamen, scheinbar nurmehr historischen Dornburg „trifft“ er, was er im lauten Getriebe und Gezänke der Menschen vermisst: einen „Tag, / der keine Lüge kennt“. In knappen, gleichsam nur andeutenden Zeilen, die sich, beinah wortkarg jeden Prunk und Dekor vermeidend, auf das Wesentliche des Ortes beschränken, gibt er die Seele der Landschaft zu Protokoll. Die elementaren Kräfte eines Raumes, der über Jahrhunderte im Einklang mit seinen natürlichen Gegebenheiten kultiviert wird, animieren zum Bleiben – „Kein anderer Ort / hat diese helle Stimme.“

Cibulkas Weitsicht hat die politischen Verhältnisse, unter denen er schrieb, überlebt; im Jahr seines hundertsten Geburtstags laden sie noch immer dazu ein, in der vermeintlichen Provinz die beständigere Welt zu suchen. „Wir werden zu einem einfachen, bescheidenen Leben zurückkehren müssen, es wird das Kennzeichen einer neuen Aristokratie sein. Die Zukunft liegt im Verzicht, nicht in der Fülle“, schrieb er 1994 in seinem Erinnerungsbuch „Am Brückenwehr“. Dringlicher lässt es sich auch heute nicht formulieren.

Hanns Cibulka: „Dornburg“

Hier finde ich
die alten Zeichen wieder,
die blaue Farbe des Windes,
gelbgefleckt ein paar Wege,
die Weinstraße
schattenlos.

Kein anderer Ort
hat diese helle Stimme,
der Muschelkalk im Berg,
halb weiß,
streicht waagrecht aus.

Die Traube
wirbt um deinen Mund.

Unter dem Sonnendach einer Esche
bleibe ich stehen,
getroffen von einem Tag,
der keine Lüge kennt.

Hanns Cibulka: „Losgesprochen“. Gedichte aus drei Jahrzehnten. Hrsg. von Gerhard Wolf. Reclam Verlag, Leipzig 1989. 124 S., br., vergriffen.

Von Jan Röhnert ist zuletzt erschienen: „Breughels Affen“. Gedichte. Elif Verlag,

Nettetal 2019. 154 S., br., 18,– €.

Gedichtlesung von Thomas Huber

Quelle: F.A.Z.
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