Vielleicht habe ich auch mal genug vom Paradies

Adam und Eva sitzen in einem Granatapfelbaum. Jeder hat eine Frucht gepflückt, der Vollmond bescheint, wie sie einander die köstlichen roten Samenhüllen reichen, und zwei Äste weiter ist lächelnd eine Schlange im Baum unterwegs: Wer je vom Garten Eden gehört hat, wer die Schöpfungsgeschichte der Bibel kennt, glaubt zu wissen, was jetzt kommt. Im Bilderbuch „Eines Nachts im Paradies“ allerdings, das eine kleine Geschichte aus dem Nachlass des im September 2014 gestorbenen Schweizer Autors Jürg Schubiger zu Bildern von Rotraut Susanne Berner erzählt, kann man da nicht so sicher sein. Die beschriebene Szene ist das Schlussbild dieses Buchs, die beiden haben gerade eine atemberaubende Entdeckung gemacht, und: Nein, um den Baum der Erkenntnis geht es dabei nicht.
Sie waren ins Philosophieren gekommen. Eva hatte übermütig behauptet, die Sterne am Himmel zählen zu können, aber Gescheiteres zu tun zu haben. Freilich braucht sie auf Adams skeptische Nachfrage einen Moment, um darauf zu kommen, was das denn bitte sein soll. „Nachdenken, sagte sie dann, zum Beispiel über die Ewigkeit und über das Paradies.“ Als sie das sagt, trägt der Baum, neben dem sich die beiden auf einem Polster aus Moos räkeln, der Baum, an dessen Früchten sie sich zu guter Letzt zusammen mit vielen Tieren gütlich tun werden, noch nicht einmal Blüten. Er ist, neben dem Mond und den beiden, das einzig Bleibende in den Bildern Rotraut Susanne Berners.

So zugänglich und offen die leuchtenden Tempera-Malereien der Künstlerin in ihren allbekannten Wimmelbüchern wirken, in denen sie mehrere Dutzend Charaktere durch ein Städtchen, Tag und Nacht, die Jahreszeiten begleitet: Was sie ihrem Paar im Paradies zugesellt, zeigt zwar Berners unverwechselbares Farb- und Formenspiel. Die Kompositionen indes wirken teils wie einem Biologiebuch entnommen, teils seltsam surreal: Verschiedenste Tiere und Pflanzen sind in den unterschiedlichsten Entwicklungsstadien zu sehen, Einzeller, Kerbtiere und Dinosaurier, gar die Doppelhelix des DNA-Moleküls. Manche Säugetiere schweben wie bei Chagall, und auf der dünnen Linie, die in den Bildern die paradiesische Atmosphäre vom Firmament trennt, haben sich Vögel zusammen mit ähnlich großen Insekten, einem Chamäleon und einem Affen wie auf einem Freileitungskabel niedergelassen.
Der Sternhimmel zeugt vom Fortgang einer Nacht, die Mondphasen von dem eines halben Monats, die Bilder indes erzählen vom Gegenstück der Schöpfungsgeschichte, mit der Jürg Schubigers Anekdote aus dem Paradies spielt: Die Entstehung der Arten wird angedeutet, die Entwicklung einzelner Lebewesen – in einem Teich sind die verschiedenen Stadien von der Kaulquappe zum Frosch aufgereiht – dargestellt, und auch Bilderbuchfreunde im vom Verlag empfohlenen Lesealter von zehn Jahren an werden sich gern mit erwachsener Unterstützung einen Weg durch das Gewimmel der bildlichen Anspielungen bahnen.
So statisch der Blick auf das Paar in diesen Bildern bleibt, so unberührt ist es von der Parade in seinem Umfeld: Seine Beziehung gewinnt unversehens an Dynamik, auch das Gespräch zwischen Adam und Eva entwickelt sich – zunächst in keine gute Richtung. Sie lässt sich zu dem Geständnis hinreißen, eines Tages könnte es ihr verleidet sein, „ewig dieses Paradies, diese Kängurus, diese Gnus und Kakadus“. Worauf er sie anherrscht, was sie denn noch wolle, und sie zurückbrüllt, es gehe ihr doch gar nicht um mehr, sondern vielmehr um weniger: „Uns bleibt ja hier nichts zu wünschen übrig.“ Da zuckt ein Blitz über Berners grau gewordenen Himmel, Pflanzen und Tiere zeigen ihre Stacheln.
Für ihr gemeinsames Buch „Als die Welt noch jung war“ haben Jürg Schubiger und Rotraut Susanne Berner 1996 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten. „Als die Welt noch jung war, mußte das Leben gelernt werden“, heißt es in diesem Kinderbuch. Das gilt fraglos auch in „Eines Nachts im Paradies“, ungeachtet der evolutionären Zeitalter, die in diesem neuen Bilderbuch vor den Augen der faszinierten Betrachter vorüberziehen. Einen großen Lebenslernschritt immerhin machen die beiden Bewohner in Jürg Schubigers entzückender Erzählung schließlich mit Adams Erfindung, mit einer atemraubenden Entdeckung, die Eva aus ihrer Unzufriedenheit, Adam aus seiner Ratlosigkeit und die beiden aus ihrem Zwiespalt erlöst: dem Kuss.
Jürg Schubiger, Rotraut Susanne Berner: „Eines Nachts im Paradies“. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2022. 24 S., geb., 18,– €. Ab 10 J.
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