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Da hat Halle aber Glück gehabt: Während die Corona-Pandemie den 1920 gegründeten und damit ältesten Händel-Festspielen in Göttingen das hundertjährige Jubiläum verhagelte (geplant war die Aufführung sämtlicher zweiundvierzig Opern des Komponisten), dürfen die Festspiele in Halle, Georg Friedrich Händels Geburtsstadt, zwei Jahre später gegründet, nun in vollen Zügen feiern. Eine Ungerechtigkeit des Schicksals, die man in Halle vielleicht als kleinen Ausgleich empfindet dafür, dass Göttingen der Geburtsstadt des Komponisten ein bisschen voraus war bei der Wiederentdeckung seines Werkes. Jedoch, die Händel-Gemeinde (hinzu kommen noch die Festspiele in Karlsruhe) ist eine kollegiale und friedliebende. Ganz im Sinne des Komponisten, dessen Musik wie kaum eine andere Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Schichten anspricht. Man hält also Kontakt, spricht sich ab, um Programmdoppelungen zu vermeiden, und besucht sich gegenseitig – nun in Halle, wo das Programm der ersten Festspiele von 1922 als Reminiszenz ins Programm der diesjährigen Auflage eingewoben ist.
Das reicht von einem „Festvortrag“, den der diesjährige Händel-Preisträger und renommierte Händel-Forscher Wolfgang Hirschmann übernahm, bis hin zur Wiedergabe des Oratoriums „Semele“ in der Einrichtung, die 1922 verwendet wurde: mit großem Orchester (allein acht Oboen), Riesenchor und einem Klavier anstelle eines Cembalos. Eine Begegnung mit einem ausgestorbenen, wiederbelebten Riesentier.
Auch die Oper „Orlando“ stand damals auf dem Programm. Es war die erste Aufführung der Neuzeit, nachdem das Stück zweihundert Jahre lang vor sich hin geschlummert hatte. Selbst Händel, der Blockbuster des Barocks, hatte seine Hochs und Tiefs, was das Interesse an seinen Werken anging. Bei der Neuauflage am Opernhaus Halle sieht man nun einen Abend lang – traumatische Folgen nicht ausgeschlossen – nahezu ausschließlich triebgesteuerte Figuren auf der Bühne. Sie tragen wenig mehr als ihre Oberflächlichkeit zur Schau, entblößungswillig, die Frauen im Badeanzug oder auch in Strapsen, die Männer in Bademantel oder häuslicher Jogginghose.
Walter Sutcliffe, seit dieser Spielzeit Intendant des halleschen Opernhauses und mit Aufführungen von Benjamin Brittens „Sommernachtstraum“ und Aribert Reimanns „Traumspiel“ erfreulich experimentierfreudig, setzt dem Betrachter des „Orlando“ nun gnadenlos eine Tinder- und Instagram-Welt entgegen in aller Flachheit. Die Frauen sind Sexobjekte (und geben sich dazu bereitwillig her), die Männer gelangweilte Konsumenten. Diese Rollenaufteilung ist so grausam wie altbekannt, so eindimensional wie ermüdend. Tatsächlich wird sich während des gesamten Abends kaum etwas ändern, sodass Sutcliffe in recht unglücklicher Weise das Rollenbild bedient, das er kritisieren möchte: Angelica und Dorinda müssen leicht bekleidet umherstöckeln, sich räkeln und spreizen und geben, selbst von Orlando eingesperrt und bedroht, eine mehr oder weniger medial verwertbare Figur ab.
Orlando selbst dreht sich im Hamsterrad eines langweilenden Luxuslebens. Ein bisschen Bodybuilding gehört dazu, außerdem Cocktailtrinken, Fernsehen und die Prüfung erotischer Angebote im Internet. Dass dieser Roland nicht nur rasend vor Liebe ist, sondern zum grausamen Triebtäter wird, passt in den Stil des Expliziten, der diese Inszenierung prägt. Andeutungen haben hier keinen Raum, Halbausgesprochenes, Unausgesprochenes.
Dabei ist Händels Musik voll davon! Mögen die Texte des Libretto oft von rein äußerlicher Liebe sprechen, die Musik, deren Eros immer auch das Geistige mit einschließt, tut es nicht. Sie ist voll anrührender Melodien und Rhythmen, die von tiefen, äußerst differenzierten, vielgestaltigen Gefühlen sprechen. Beide, Angelica und Dorinda, haben große Momente, in denen sie zu sich kommen und ihre Person in den Erscheinungen der Natur spiegeln. Dorinda singt dann von der Nachtigall, deren Gesang Händel ganz famos imitiert, und Angelica von Brunnen, Kräutern und schattigen Lauben. Sie tun es in grelles, pinkes Licht getaucht, in ihren Badeanzügen herumstaksend, und meinten sie es ernst, müssten sie jetzt auf der Stelle all den schmierigen Zuhälter-Kitsch der Bühne (Gideon Davey) entsorgen. Sie tun es nicht. Auf der Bühne singt man Händel, aber hört ihn nicht.
Möglich, dass auch die Musiker im Orchestergraben darüber deprimiert sind. Das Festspielorchester unter Christian Curnyn macht kaum Anstalten, für einen Akzent zu sorgen, äußerst zurückhaltend, nahezu gestaltungsarm leitet Curnyn durch diesen langen Abend. Die Sänger müssen selbst für Glorie sorgen: Xavier Sabata als Orlando mit wundersam samtenem Countertenor, Franziska Krötenheerdt als Angelica mit agilem Sopran, Vanessa Waldhart (ebenfalls Sopran) als kapriziös zwitschernde Dorinda.
Dass sich der Charme von Händels Musik nicht von selbst aufschließt, ist auch tags darauf beim Konzert in der Händel-Halle zu erleben. Philippe Jaroussky, der nun vermehrt zum Taktstock greifen will, dirigierte dort das Ensemble Artaserse. Die extreme Körperspannung, mit der der Sänger Jaroussky seine Expressivität erzeugt, erweist sich beim Dirigieren eher als problematisch. Wie Jaroussky mit angelegtem Oberarm den Takt schlägt klingt das Ensemble verspannt, fugierende Abschnitte wie etwa zu Beginn des Concerto grosso op. 3 Nr. 5 tönen wie buchstabiert, selten, dass die weitgespannte Melodik Händels zum Atmen kommt.
Jarrousky darf hier auf hohem Niveau Dirigieren lernen, was eine tragikomische Seite hat, wenn das Ensemble allein spielen muss und plötzlich wie befreit klingt. Dann nämlich, wenn Jarrousky singt, gemeinsam mit der fabelhaften Sopranistin Emöke Baráth, und dabei jenen Zugriff auf die Stimme demonstriert, der ihm im Umgang mit dem Ensemble nicht gelingt. Emöke Baráth lässt sich davon nicht beirren und singt Arien aus „Radamisto“, „Giulio Cesare“ und „Alcina“, dass einem das Herz aufgeht: mit weichem, fein timbrierten Sopran und einer Trennschärfe zwischen den Tönen, dass sie wie goldene Perlen aufgereiht scheinen.