Der Wille zur Unterordnung

Wie es möglich ist, dass eine vergleichsweise kleine mafiöse Gruppe sich ein großes Land mit einer komplexen Bevölkerung unterwerfen kann, das hat der belarussische Autor Viktor Martinowitsch in seinem jüngsten Roman, dem 2021 auf Deutsch erschienenen Moskau-Thriller „Revolution“ literarisch-anthropologisch zu ergründen versucht. Der 44 Jahre alte Martinowitsch, der auch in früheren, oft dystopischen Büchern das Leben und Lieben unter den Bedingungen des Totalitarismus extrapoliert hat, gehört zu den wenigen liberalen Intellektuellen im russischsprachigen Raum, die sich nach dem Beginn des Ukrainekriegs bewusst gegen eine Emigration in den Westen entschieden haben.
Der vielleicht bedeutendste Schriftsteller seines Landes, der dort aber nicht publizieren kann, lebt in der Nähe von Minsk, er lehrt an der Europäischen Universität in Vilnius und kam jetzt von einer Studienreise in Griechenland ans Hamburger Schauspielhaus, wo eine Bühnenfassung von „Revolution“ Premiere hatte. Er wolle an den Ereignissen in seiner Heimat teilhaben und nicht Zuschauer sein, wie es das Los der aus Russland und Belarus Geflohenen sei, die für ihre Kultur zumeist zu „Ehemaligen“ würden, sagt Martinowitsch der F.A.Z. in einem Hamburger Café. Deswegen werde er am morgigen Dienstag nach Minsk zurückkehren.
„Revolution“, das in den Nullerjahren spielt, schildert Russlands Tiefenstaat während des Rohstoffbooms, da die russische Hauptstadt als luxusversessene Sin City viele westliche Besucher faszinierte. Das Buch führt vor, wie das Alter Ego des Autors, eines europäischen Intellektuellen aus Belarus, von den real existierenden Machtstrukturen „umgedreht“ und zu einem Monster gemacht wird. Der tschechische Regisseur Dušan David Pařízek macht daraus ein ebenso schauriges wie komisches Typen- und Thesendrama, das dank eines engagierten Ensembles zwischen Kammerspiel, Cabaret und Ego-Shooter-Raserei virtuos wechselt. Verschiebbare weiße Wände eröffnen immer neue leere Räume, die durch Schattenspiele, Blutflecken oder Videoprojektionen auch zu Psychokabinetten werden.

Der phänomenale Daniel Hoevels, der Martinowitsch äußerlich etwas ähnelt, gibt die Hauptfigur des Kultursemiotikers Michail German als quecksilbrig Getriebenen, der in der herzensklugen Olja (mädchenhaft, aber stark: Sandra Gerling) einen emotionalen Anker hat. Doch zwei Glatzköpfe mit hünenhaften Schulterpolstern und Umhängebart (fies-fröhlich: Paul Herwig und Markus John) arrangieren in einem akrobatischen Autofahrerdreiertanz für ihn eine Unfallschuld, von der sie ihn sodann magisch freikaufen – und er, zunehmend theaterblutbefleckt, entkommt ihren Netzen nicht mehr.
Russische Geheimdienstler sind literaturbesessen
Im Gegensatz zu den eher bildungsfernen belarussischen Geheimdienstlern seien deren russische Kollegen literaturbesessen, sagt Martinowitsch, der es symptomatisch findet, dass mit Putins Angriff auf die Ukraine zum ersten Mal ein Krieg mit einer Vorlesung begonnen wurde. In „Revolution“ ist der Pate des Systems ein früherer Sowjetstaatschef und Uraltgeheimdienstler. Der definiert die Mission seines juristisch ungreifbaren, per SMS kommunizierenden „Freundeskreises“ mit pompösen Rekursen auf Freud und Foucault dadurch, dass die Gesellschaft im Chaos versinken würde, wenn ihren widerstrebenden Begierden nicht harte Bandagen angelegt würden. Ernst Stötzner verkörpert die dämonische Retrofigur als napoleonischen Seniorathleten mit Sonnenbrille und Silbermähne, der sich zwischendurch zum Rollstuhlgreis wandelt.
Als aktuellen Gag lässt Pařízek ihn auch einen Kreis der „Freunde der russischen Oper“ leiten und baut als Spiel im Spiel einen Auftritt von Dmitri Schostakowitsch (am Klavier: das viele Rollen verkörpernde Multitalent Peter Fasching) und der Chansonnière Eva Maria Nikolaus ein. Mit Pelzmütze und transparentem Kleid singt sie Passagen der „Lady Macbeth von Mzensk“ und erläutert die Partie. Doch als Nikolaus vom Gulag und der Schwärze ihres Gewissens lamentiert, kontern die „Freunde“, den Gulag habe es nie gegeben, und der Pate lässt diesen Opernschluss streichen.
Denn Unrechtsbewusstsein transformiert man in ihrem wie auch Putins Netzwerk in Wut. Als Hoevel, dessen verkrampfte Handgesten und zuckendes Mienenspiel Bände sprechen, einem sterbenden Agenten jeden Beistand verweigert, erscheint der ihm noch als tadelnde Stimme des Gewissens. Als er dann durch eine falsche Zeugenaussage einen oppositionellen Unternehmer hinter Gitter gebracht hat und sein Akademikerfreund ihn dafür beschimpft, giftet er zurück und lässt ihn, da er selbst steil die Karriereleiter emporfällt, maximal unehrenhaft entlassen.
„Revolution“ ist die lustig verstörende Geschichte vom Willen zur Unterordnung unter die Macht. Die verwandelt Menschen in Schatten, wie Rebekka Dahnkes Lichtregie veranschaulicht, sie belohnt Hoevels Helden jedoch auch durch Videosuggestionen rasanter Autofahrten und Hochleistungssex. Auf Kommando des Paten sagt er sich von Olja los. Und selbst der Befreiungsschlag bringt ihm nur den endgültigen Rollentausch mit jenem. Applaus für einen hochinspirierten Theaterabend.
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