Seligpreisung, Furcht und Segen

Im allerersten Anfang, der Schöpfung, mag das Wort gewesen sein, wovon das Logos-Lied im Johannesevangelium noch immer singt. Aber beim individuellen Anfang des Lebens eines jeden Menschen geht der Erschließung der Welt durch Sprache eine Grammatik der Hormone voraus, die bereits eine Ordnung von Mühe und Belohnung, Angst und Lust, Not und Lösung, Schmerz und Behagen schafft, bevor wir selbst einen Begriff davon haben. Es ist unter allen Künsten wohl die Musik, die den am wenigsten mittelbaren Zugriff auf diese Codierungen unseres leib-seelischen Befindens zu haben scheint. Der Komponist Mark Andre, der sich der Offenbarung Gottes in der Bibel, in Jesus Christus und im Heiligen Geist verpflichtet weiß, kennt diese Codes einer vorsprachlichen Berührbarkeit des Menschen. Davon erzählt seine Musik, die gerade bei zwei Konzerten der Musica Viva des Bayerischen Rundfunks in München im Mittelpunkt steht.
Nicht von ungefähr hat Andre sowohl in seinem Werk „. . . über . . .“ für Klarinette, Orchester und Live-Elektronik, gespielt vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Shiyeon Sung, und in „. . . selig sind . . .“ für Klarinette und Live-Elektronik beide Male alles aus dem Klang der Klarinette entwickelt. Ihr Wesen beschrieb der Mozart-Zeitgenosse Christian Friedrich Daniel Schubart schon vor über zweihundert Jahren als „in Liebe zerflossenes Gefühl“. Es liegt etwas Balsamisches im Klarinettenton, etwas Anziehendes, eine klingende Einladung zur Nähe. Und Jörg Widmann als begnadeter Klarinettist und zugleich als intellektuell empathischer Komponist macht in fesselnder Weise erfahrbar, worum es in diesen Werken geht: um Zuwendung und Zuspruch, die stärken, trösten und heilen wollen.
„. . . über . . .“ ist aus der aaronitischen Segensformel des Alten Testaments entwickelt: „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ Das Werk „. . . selig sind . . .“ folgt den Seligpreisungen der Bergpredigt im Matthäusevangelium.

Selig sind ja all jene, die auf sämtliche Attribute landläufiger Macht, Stärke, Gewalt, Besitz und Rechthaberei verzichten. Widmann durchwandert dabei den Herkulessaal der Münchner Residenz und umgibt die Hörer von allen Seiten mit Klang und Atem, der für den Odem des Lebens wie für den Heiligen Geist steht, hoch sensibel begleitet durch Michael Acker, Joachim Haas und Maurice Oeser vom SWR Experimentalstudio, die in Timbre und Lautstärke dichteste Anschlüsse an das Live-Geschehen schaffen, sodass die Spannung von Nähe und Sehnsucht nie abreißt.
Doch eine Wellness-Spiritualität wird hier nicht geliefert. Die Musik erfordert Anstrengung, stete Neuausrichtung des Hörsinns und gibt den Seligpreisungen eine schmerzhafte theologische Perspektive: Es sind vierzehn Stationen im Raum, von denen Widmann bläst, vierzehn wie beim Kreuzweg. Die Seligkeit, die hier verheißen wird, ist ohne Kreuz und Leid nicht zu haben.
Und so heißt denn ein relativ neues Werk von Mark Andre für Kontrabass solo auch „Sie fürchteten sich nämlich“ nach dem ursprünglichen Schlusssatz des Markusevangeliums, der die erste Reaktion der drei Frauen am Ostermorgen beschreibt, als sie erfahren, dass Christus auferstanden sei. Vier Jahre lang haben der Kontrabassist Frank Reinecke und Mark Andre das Stück zusammen entwickelt, sich vom Instrument selbst den Weg zeigen lassen, welche seltenen Klänge – gläsern-fahle Flageoletts wie fast verblichene Spuren früherer Töne – welche Geschwindigkeit und welches Kontrastumfeld brauchen, um zur Erscheinung zu gelangen. Der Entzug und das Verschwinden, das Ausharren in einer Zwischenzeit von vergangener und erwarteter Gegenwart spielen dabei wie in vielen Werken von Andre eine zentrale Rolle. Sie stehen natürlich auch für die Situation des gläubigen Christen zwischen dem Entzug der Präsenz Jesu seit dem Himmelfahrtswunder und seiner erwarteten Wiederkehr am Jüngsten Tag.
Die künstlerische Gestaltung tradierter Glaubenserfahrungen geht aber bei Andre einher mit einer avancierten Ästhetik, die Geräusche, Fingerklopfen auf dem Griffbrett, das Streichen auf und hinter dem Steg, ebenso auf der Zarge des Kontrabasses, mit einschließt. Frank Reinecke, der durch seine fesselnde Bühnenpräsenz eine Musik des Verschwindens zusammenhält, empfindet als Höhepunkt des Stückes das Herabstimmen der tiefsten Seite seines Instruments um eine ganze Oktave. Der Ton hat eine Frequenz von 20,5 Hertz und liegt damit nur knapp oberhalb der Infraschallgrenze. Reinecke kombiniert diese Frequenz mit einem Tremolo von sieben Impulsen pro Sekunde, was einer Frequenz von 21 Hertz nahekommt. Die Grenzerfahrung des Hörens nimmt die Gestalt des Zitterns an, wodurch die Furcht zu einer musikalisch induzierten, körperlich spürbaren Erfahrung wird.
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