Das Dilemma der Supreme-Court-Richter

Eine Stimme fehlt im Gericht. Der Entwurf des Urteils des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten zum Abtreibungsrecht, den die Internetzeitung „Politico“ am 2. Mai veröffentlicht hat, bildet eine Mehrheit von fünf Mitgliedern der neunköpfigen Richterbank ab. „Opinion of the Court“ steht über dem von Samuel Alito verfassten Text, der bereits im Layout der gedruckten Entscheidungssammlung umbrochen ist und 98 Seiten füllt. Damit Alito den Auftrag erhalten konnte, diesen Entwurf der Urteilsbegründung auszuarbeiten, muss in der Probeabstimmung nach der mündlichen Verhandlung im Dezember eine Mehrheit der Richter für das Ergebnis votiert haben, das der Text mit dem Datum des 10. Februar begründet: Das Gesetz des Bundesstaats Mississippi, das Abtreibungen von der fünfzehnten Schwangerschaftswoche an verbietet, verstößt nicht gegen die Verfassung, und das Grundsatzurteil im Fall Roe versus Wade von 1973, das ein Grundrecht auf Abtreibung aus der Verfassung ableitete, wird aufgehoben.
Nach dem Coup von „Politico“ – nie zuvor war der Wortlaut eines solchen „Draft“ vorab bekannt geworden – bestätigte das Gericht einerseits die Echtheit des Dokuments, um andererseits mitzuteilen, dass die Urteilsfindung nicht abgeschlossen sei. Das ist zwar eine Formalität. Erst in der Schlussabstimmung entscheidet sich, ob der Entwurf Mehrheitsvotum geblieben ist und als solches verkündet wird. Aber auffälligerweise betonte die Pressemitteilung, dass noch kein einziger Richter sich seine abschließende Meinung gebildet habe. Allgemein wird für wahrscheinlich gehalten, dass der mutmaßlich überstimmte Gerichtsvorsitzende John Roberts mit dem Versuch beschäftigt ist, einen Kollegen aus Alitos Mehrheitsfront herauszubrechen.
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