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Thomas Bauer will sich in seinem neuen Buch vom Begriff „Mittelalter“ verabschieden. Geht das? Die Globalisierung verändert alles. Auch die Geschichte. Die Rede ist deshalb seit einigen Jahren von „Globalgeschichte“. Damit ist eine Wahrnehmung, Darstellung und Erforschung von Geschichte gemeint, die von der tatsächlichen oder virtuellen Vernetzung aller Menschen in der Gegenwart ausgeht.
Der Perspektivenwechsel zur herkömmlichen Geschichtsauffassung könnte größer nicht sein. Man kann sich dies im Kontrast zur traditionellen Universalgeschichte klarmachen. Diese hatte eine Botschaft vom Anfang und Ende aller Geschichte; vor allem imaginierte sie ein Ziel allen Geschehens, das Gläubige in früheren Zeiten als Weltgericht mit der Wiederkunft Christi, moderne Menschen als klassenlose Gesellschaft oder als unbeschränkte Geltung der Menschenrechte mit guten Lebensbedingungen für alle erblickten.
Solche Verheißungen bietet Globalgeschichte nicht; sie interessiert sich dafür gar nicht, sondern will nur die weltweite Kommunikation und die dadurch bewirkten Veränderungen erforschen und darstellen. Mit der Universalgeschichte wird auch das europäische Verlaufsschema Antike – Mittelalter – Neuzeit obsolet.
Der Optimismus, man könne in der Moderne nach einem Niedergang von Jahrhunderten an die Maßstäbe der Klassik anknüpfen, trägt nicht mehr. Alle Epochen werden zu gleichwertigen Untersuchungsobjekten, zwischen denen allenfalls Wandel, aber keine Entwicklung auf eine höhere Stufe erkannt werden kann. Von ,Mittelalter‘ kann man auch nicht mehr sprechen, sondern nur von einem mehr oder weniger willkürlich abgeteilten Zeitsegment von tausend Jahren.
Viel wissen wir über die Globalisierung dieser Periode noch nicht. Im Unterschied zur Historiographie der jüngeren Jahrhunderte sind die Mediävisten dem Wandel des Geschichtsbildes bisher meist aus dem Weg gegangen; aber wenn sie jetzt nicht aufpassen, werden sie bald nicht mehr gebraucht. Wer sich auf den neuen Verständnishorizont von Geschichte einlässt, kommt an einer Einsicht nicht vorbei: Wirklich globale Netzwerke wie in der Moderne gab es im sogenannten Mittelalter nicht, ebenso wenig wie in allen noch früheren Zeiten.
Vielmehr lassen sich auf unserem Globus mehrere Welten bestimmen, die in sich geschlossen waren und mit den anderen nicht kommunizierten. Ich nenne Afrika südlich der Sahara, Sibirien in Asien, die riesige pazifischen Inselwelt, die unzähligen nordamerikanischen Siedlungsareale und die unverbundenen mittel- und südamerikanischen Hochkulturen.
Den größten zusammenhängenden Komplex bildeten Nordafrika, Europa und das mittlere und südliche Asien. Für dieses Areal ist auch schon aus Europa, Afrika und Asien das Akronym „Eufrasien“ gebildet worden. Da das Mittelalter traditionell als Geschichtsepoche Europas aufgefasst wird, müsste die Mediävistik diese trikontinentale Ökumene jetzt und künftig zu ihrem Studienobjekt machen. Ich plädiere deshalb dafür, statt vom mittelalterlichen Jahrtausend vom eufrasischen Zeitalter zu sprechen.
Methodisch ginge es darum, großflächige, transkontinentale Beziehungen zu untersuchen und als verschieden erkannte Sonderwelten zu vergleichen. Als Leitfossilien bieten sich die großen Reichsbildungen, die Verbreitung der Religionen und die Netzwerke des Fernhandels an. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass dem weltgeschichtlich neuen Faktor jenes Jahrtausends, nämlich dem Islam, eine Schlüsselrolle zukommt.
Muslimische Herrscher waren es, die im Nahen und Mittleren Osten am wirkungsvollsten den kulturellen und materiellen Austausch kontrollierten. Die herkömmliche Mediävistik muss diese Herausforderung annehmen; wer sich für Europa zwischen 500 und 1500 interessiert, muss künftig mehr denn je mit Disziplinen zusammenarbeiten, die sich mit anderen Regionen befassen.
Dazu gehören neben der Islamwissenschaft besonders die Indologie, die Sinologie und die Afrika-Wissenschaften. Natürlich muss es auch künftig Expertinnen und Experten für die Edition lateinischer Quellen christlicher Provenienz geben, aber die Mediävistik wird sich im Ganzen zu einer eufrasischen Teildisziplin wandeln, oder sie wird verschwinden. Wer an die Erneuerungskraft von Wissenschaft glaubt, wird die Krise aber nicht als Bedrohung empfinden, sondern als Inspiration schätzen.
Michael Borgolte lehrte bis 2016 Mittelalterliche Geschichte in Berlin.