Ich wollte in den Dschihad gegen den Westen ziehen

Es ist das Jahr 2006, und ich stehe mit einem roten Buch in der Hand vor den Schülern. Es ist die übliche Morgenversammlung in der Aula, und ich halte heute die Ansprache. Ich lese mit Inbrunst eine Passage aus Sayed Qutbs Buch vor, einem Theoretiker der Muslimbruderschaft. In dem Abschnitt geht es um die Pflicht eines jeden Muslims, am Dschihad gegen Ungläubige teilzunehmen. Ein paar Minuten nach meiner Brandrede stehe ich im Büro des Direktors und bin kurz davor, von der Schule verwiesen zu werden. Der Direktor kann sich aber nicht dazu durchringen, einen hervorragenden Schüler von der Schule zu verweisen, dessen Vater in einem amerikanischen Gefängnis sitzt.
Fünf Jahr zuvor hatte ich mich mit meinen Geschwistern und meiner Mutter in einem Zimmer zusammengekauert, während fremd aussehende Menschen unser Haus durchsuchten. Mein Großvater, Gulbuddin Hekmatyar, war in den Achtzigern einer der bekanntesten Mudschaheddin; in den Neunzigern war er zweimal Afghanistans Premierminister gewesen. Vater hatte uns vor dem Zugriff gewarnt, weil mein Großvater den Dschihad gegen die amerikanische Invasion ausgerufen hatte. Trotzig hatte ich die seltenen Fotos, die ich von meinem Großvater hatte, auf meiner Kommode platziert. Ich blieb unbeeindruckt davon, was all dies zu bedeuten hatte, bis ich aus einem Türeingang heraus beobachtete, wie einer der Offiziere seine Pistole zog und meinem Vater in den Nacken setzte. In der gleichen Nacht wurde er fortgebracht, um verhört zu werden, sollte aber nach ein paar Stunden zurückkommen. Aus den Stunden wurden Tage, die zu Monaten wurden und schließlich sechs Jahre andauerten. Es war die schwierigste Zeit meines Lebens.
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