Die Verbrechen der Zukunft

Auf einem der Fotos sieht man Sergio Leone und Michelangelo Antonioni am Strand zu Füßen der Croisette stehen und plaudern, und man wüsste zu gern, worüber die beiden reden. Auf einem anderen sitzen Sophie Marceau und Gérard Depardieu traurig nebeneinander im Taxi auf dem Weg zur Vorführung eines Films, den sie offenbar lieber nicht zusammen gedreht hätten. Auch Luchino Visconti und Romy Schneider sind da, Martin Scorsese und Quentin Tarantino, Javier Bardem und Nicole Kidman, und falls irgend jemand noch fehlt, wird man ihn oder sie sicher bald an irgendeiner Ecke der Stadt entdecken.
Das Filmfestival von Cannes hat seine Vergangenheit in den Straßen plakatiert. Es wird in diesem Jahr fünfundsiebzig, und das ist für die Festivalleitung Grund genug zum Feiern, obwohl bereits der siebzigste Geburtstag vor fünf Jahren ausgiebig begangen wurde. Allerdings haben die Feierlichkeiten etwas Pflichtgemäßes.
Außer einer neuen, vom Schweizer Juwelier Chopard entworfenen Goldenen Palme, die auf einem Rosenquarz ruht und zwei von Diamanten gerahmte Palmblätter enthält, gibt es nur den üblichen Empfang für Veteranen des Festivals und ein Symposion, auf dem die Ehrengäste über die Zukunft des Kinos nachdenken wollen. Das könnte eine wenig freudvolle Veranstaltung werden.

Düstere Lage des Autorenkinos
Denn die Lage des Kinos, jedenfalls jenes Kinos der Autoren, das Cannes groß gemacht hat, ist düster. In Frankreich, der größten europäischen Filmnation, sind die Umsätze um ein Drittel gegenüber der Zeit vor Corona eingebrochen, und auch wenn sich die Zahlen nicht ohne weiteres auf andere Länder übertragen lassen, ist ihre Botschaft unüberhörbar.
Während nämlich das Publikum der amerikanischen Blockbuster vor die Leinwände zurückgekehrt ist, haben sich die durchschnittlich älteren Zuschauer der sogenannten Arthouse-Filme in Massen vom Kino verabschiedet. Hinter dem Exodus steckt eine langfristige Entwicklung, die durch die Pandemie nur stark beschleunigt wurde, die Ablösung der klassischen Vertriebsformen durch die Streamingdienste.
Während vor 2019 noch zwei Drittel der Einnahmen der Filmbranche an der Kinokasse und nur ein Drittel durch Netflix, Amazon und die anderen Plattformen erwirtschaftet wurden, hat sich das Verhältnis in den letzten drei Jahren umgekehrt. Auf dem Markt der Bilder herrschen jetzt die Hüter digitaler Konserven.
Aber das Erfolgsmodell der Streaming-Anbieter ist eben nicht der Spielfilm, sondern die Serie. Für die Festivals bedeutet das, dass sie sich, wenn sie die Entwicklung des Mediums weiter abbilden wollen, für eine Erzählform öffnen müssen, die ihrer Ereignisdramaturgie widerspricht. Serien sind kein guter Stoff für Filmgalas.
Hollywood hat Streaming für sich entdeckt
Dennoch bemühen sich alle Festivals, den Produkten der Streamingwelt Raum zu geben. Alle außer Cannes. Hier gibt es nach wie vor keine Sektion für serielle Formen, und Netflix-Filme, die nicht in französischen Kinos laufen, bleiben vom Programm ausgeschlossen. Vor drei Jahren wirkte diese Haltung noch souverän. Inzwischen hat sie einen bitteren Beigeschmack von Trotz.
Denn Hollywood, dessen Geschäfte laut den Branchenmagazinen in diesem Jahr wieder blühen, hat den Wachstumsmarkt der Streaming-Abonnenten längst für sich entdeckt. Für Cannes, das sich immer als ein Gegenparadies zur Traumfabrik inszeniert hat, ist das eine schlechte Nachricht. Die Kino-Autoren, deren ästhetische Rechte das Festival vertritt, werden auf Dauer nämlich gar nicht anders können, als ihre Geschichten dort anzubieten, wo sie ihr Publikum finden.
Für das Filmfest an der Croisette bedeutet das, dass es den Strukturwandel im Audiovisuellen entweder mitvollzieht oder zu einer Bastion vergangenen Kinoglanzes verkümmert. Mit Thierry Frémaux, dem langjährigen Programmchef, dürfte die Verwandlung kompliziert werden. Beim traditionellen Pressegespräch zu Beginn des Festivals wich Frémaux der Frage eines Journalisten, wo er Cannes in fünfundzwanzig Jahren sehe, demonstrativ aus. Er wird wissen, warum er ungern in die Zukunft schaut.
Cronenberg, Park Chan-Wook und die Dardenne-Brüder
In den kommenden zehn Tagen wird das größte Filmfestival der Welt abermals ein Bollwerk gegen die Streaming-Flut errichten. Dabei greift es auf die Altmeister des Kinos ebenso zurück wie auf jene Regisseursgenerationen, die seit den Neunzigerjahren dem Medium ihre Signatur aufgeprägt haben.

Der David Cronenberg, dessen Thriller „Crimes of the Future“ im Wettbewerb läuft, und die Dardenne-Brüder, die dort ihr Migrantendrama „Tori und Lokita“ zeigen, drehen seit fünfzig Jahren Filme, während der Koreaner Park Chan-Wook, der Schwede Ruben Östlund und der Franzose Arnaud Desplechin erst halb so lang dabei sind. Dauergäste des Festivals aber sind sie allesamt.
Namensänderung durch Ukrainekrieg
Cannes sieht sich selbst gern als eine Art Akademie, deren Mitglieder sich jedes Jahr unter dem Himmel Südfrankreichs versammeln, um neue Beitrittskandidaten zu sichten. Dieses Schaulaufen bekannter Namen hat etwas Beruhigendes, aber auch eine gewisse Schlagseite zur Vereinsmeierei. Am Ende hängt es nicht von den Veteranen, sondern von den Neuzugängen ab, ob das Festival den Blick eher in die Vergangenheit oder die Zukunft des Kinos richtet.

Weder das eine noch das andere, sondern eine kraftlose Selbstbespiegelung des Kinos ist der Eröffnungsfilm von Michel Hazanavicius. „Coupez!“ sollte ursprünglich „Z“ heißen, bevor die Verwendung des Buchstabens durch die russische Armee bei ihrem Einmarsch in die Ukraine eine Namensänderung erzwang. Aber das ist auch schon die einzige Pointe in einer Geschichte, die an die großen Filme übers Filmemachen anknüpft, ohne nur annähernd das Format ihrer Vorbilder zu erreichen. Es geht um einen französischen Regisseur, der das Remake eines japanischen Horrorfilms als Livestream und Low-budget-Produktion dreht.
Gestammel, Gefuchtel und Kunstblut
In der ersten halben Stunde sieht man das fertige Produkt, in der letzten die Umstände seiner Entstehung, und in der Dreiviertelstunde dazwischen malt die Kamera das Porträt des filmischen Familienunternehmens, von dem Hazanavicius erzählen will. Die Komödie, die in diesem Triptychon steckt, ist noch deutlich erkennbar, aber sie geht in Gestammel, Gefuchtel und Kunstblut unter.
Vor elf Jahren hat Hazanavicius für seinen Stummfilm „The Artist“ in Cannes Ovationen bekommen. In „Coupez!“ kann man sehen, wie kurz an der Croisette der Weg vom Triumph zur Enttäuschung ist – und wie weit der Weg zurück ins Licht.
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