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Ein Kinokomödienklischee sagt: Italien argumentiert mit den Händen, überzeugt mit der Lautstärke und philosophiert mit dem Fußball. In so einer Umgebung musste ein postserieller Komponist wie Luigi Nono auf die Idee kommen, dass Musik, die Bestehendes angreifen will, Klänge braucht, die sich im Schmerz über die Dummheit der Welt weit zurücknehmen: Kaum hörbar geworden, verklingen sie schon.
Der Filmregisseur Pier Paolo Pasolini, nach dessen Tod jener Nono dem Verstorbenen zum Gedenken merkwürdige Männerchöre gesetzt hat, ging weniger subtil vor. Auch er arbeitete aber, ganz wie Nono, gern gegen den Normgebrauch der Medien, die er benutzte. So schrieb er mit der Filmkamera Verse – nicht irgendwie lyrische Bildfolgen, das kann jeder Kitschier, sondern buchstäblich Verse: Zeichenketten, die einen Erzählgang oder Gedankenverlauf so wenden, wie die geschriebene Zeile in der gebundenen Rede das leisten kann, die der Wegumkehr des in den Pflug eingeschirrten Ochsen auf dem Acker gleicht, von welcher Bewegung („versus“) das Phänomen, das wir Vers nennen, seinen heutigen Namen hat.
Einer der prägnantesten Filmverse Pasolinis findet sich in „Das erste Evangelium – Matthäus“ (1964): Renato Terra, der den Satan spielt, führt den von Enrique Irazoqui dargestellten Erlöser in Versuchung. Der Blick Jesu sagt: Ich will die Welt, die du mir anbietest, nicht haben, und ich werde sie zerstören. Christus und der Teufel stehen dabei in einem Staub, der auch Dampf sein könnte. Schnelle Schnitte (Wüste, Stadt, wieder Wüste) zeigen hier, dass Pasolini weiß: Eine Szene kann etwas ganz anderes sein als eine Einstellung, so wie ein Vers nicht mit einem Satz identisch sein muss.
Die Szene wendet den Film. Zuvor schimmerte er in Schattierungen von Innerlichkeit, jetzt kann Gottes Wort Tat werden: Jesus sagt den Jüngern, sie sollen ihm helfen, als Arbeiter, bei der Ernte. Er spricht zu armen Bauern, Fischern, zu Elenden und Kranken. Der Weckruf, sieht man, erreicht sie, aber keine Bürger, keine Leute mit Macht oder Status.
In einem seiner „hinkenden Gedichte“, die man im 2021 auf Deutsch erschienenen, sehr wertvollen Band „Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte Gedichte“ leicht findet, seufzt er selbst über diese Perspektive, über „il deprimente disprezzo per la borghesia“, also die „deprimierende Verachtung für das Bürgertum“, was hier im Zusammenhang einer lyrischen Solidaritätserklärung für die Organisation „Potere Operaio“ („Arbeitermacht“) und „alle anderen extrem linken Splittergruppen“ steht. Einen expliziten, dogmatischen „Klassenstandpunkt“ hat Pasolini weder im Gedicht noch im Film je so frontal eingenommen wie etwa Rainer Werner Fassbinder im Fernsehversuch „Acht Stunden sind kein Tag“ (1972).
Von der Realität der Klassenkämpfe war Pasolini freilich überzeugt. Er sah in ihnen unter anderem, wie es in Versen von 1962 heißt, den Grund aller Kriege („ragione di ogni guerra“). Darin hielt er es mit Karl Liebknecht, der dem Bürgertum grundsätzlich die Fähigkeit absprach, einen gerechten Feldzug zu führen. Auch nach 1945 und angesichts der Vision einer „Serie von Atombombenexplosionen“ („Serie di esplosioni di bombe atomiche“), dachten Leute in dieser Traditionslinie so wie Liebknecht am 2. Dezember 1914, als er deutsche Aufrufe zum Waffengang gegen den Zaren, den er gewiss nicht liebte, hart zurückwies – die offizielle Parteinahme gegen den Despotismus sei nur eine Tarnung, ein Versuch, „die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhass zu mobilisieren“. Auf derselben Linie fand Pasolini also den Klassenkampf wichtiger als selbst die atomare Weltkriegsbedrohung. Diese Überzeugung zwang ihn jedoch nicht, seine Filme mit Pappgestalten zu bevölkern, die derartige Positionen marionettenhaft ausagieren; denn er wusste, wie schnell das auf der Leinwand den üblen Eindruck einer Rockerlederjacke aus Lakritz erzeugt.
So geriet ihm nicht einmal die vor Fabriktoren gedrehte Eröffnung von „Teorema – Geometrie der Liebe“ (1968), seinem politisch wohl durchdachtesten Film, zur flachen Agitationsdarbietung, obwohl es darin um handfeste Eigentums- und Ausbeutungsfragen geht. Eher sind „die Arbeiter“ hier Instrumente, die gestimmt werden, um ein Konzert anzudeuten, in dem das Wort „borghese“, „bürgerlich“, als schlimmes Thema variiert wird, bis die Klasse, die so heißt, am Ende des Films in vereinzelter Menschengestalt in die Wüste des Matthäusevangeliums zurückkehrt. Da stolpert dann ein nackter, eben noch reicher Mann ins Nichts, einst Chef der Leute aus der Eröffnungsszene, jetzt seines Vermögens entäußert, ziellos, verloren.
Pasolinis wichtigste Filmfiguren sind Leute ohne klares Klassenbewusstsein. Wenn alles ganz anders gekommen wäre, schimpft etwa Accattone, jugendlicher Titelheld des ersten Pasolini-Films von 1961, hätte er „ein guter Arbeiter oder ein guter Dieb“ werden können. Zu beidem jedoch hat es nicht gereicht. Aber in der Formel „Arbeiter oder Dieb“ spricht dieser Zuhälter eine Künstlerhaltung aus: Wer Kunst macht, ist darauf angewiesen, dass andere, nicht mit Kunstproduktion Befasste (zahlendes Publikum, Mäzene, ein Staat . . .) Mittel übrig haben, die man abgreifen kann. Diese Sorte lässlichen Diebstahls des Mehrprodukts kann freilich leicht in harte Schufterei ausarten. Sollte man nicht besser zum Satan beten, falls der Reichtümer anbietet, sofern man ihm huldigt?
Accattone ist zu stolz dazu; er wettet lieber um sein Leben, stellt sich auf eine hohe Brücke, sagt, was Publikumslieblinge sagen: „Geben wir dem Volk diese Genugtuung!“, und springt. Dieses „Volk“ ist bei Pasolini kaum „Proletariat“ im Sinne von „die Facharbeiterin oder der Monteur im Autowerk“. Gemeint sind überwiegend die Zerlumpten, das Subproletariat, heute würde man vielleicht vom Prekariat reden, von den Subalternen auch oder der Multitude: Außer- und Vorbürgerliche, ob ausgegrenzt oder infolge eigenen Vorsatzes. Pasolini misst ihnen, wo er kann, Überlebensgröße zu, und verlangt von seinen Ensembles entsprechende Schauspielleistungen.
Dazu trägt er eine Regie bei, die in gewissem Sinn ebenfalls Schauspielerei ist, nämlich orientiert vor allem an Gestik, nicht an Wortlauten. Sozialdramatischer Schauspieler war Pasolini schon als Kind, wie er sich später erinnerte: „Eines Tages – mein Vater war weit weg – erfuhr ich von Mama, dass wir aus irgendeinem Grund kein Geld mehr im Haus hatten. Ich schlug ihr vor, sie solle mich in Lumpen kleiden und mir ein Säckchen geben: ich würde betteln gehen.“ Solchem Spiel liegt magische Verwandlung näher als der Umsturz.
Nicht nur die Darstellung von Klassenverhältnissen ging Pasolini, der seine ersten Filmsensationen in einem Pfarrkino erlebte, lieber mythographisch als dokumentarisch an. Alles, was er unmittelbar nicht abbilden konnte oder wollte, mystifizierte er, wodurch es aber nicht, wie schematisches Aufklärungsdenken vermuten müsste, wolkig wurde, sondern im Gegenteil auskristallisierte zu facettenreicher Evidenz.
Das Frauenbild zum Beispiel: In „Teorema“ rutscht es leider auf naturalistischem Glatteis herum – Mutter und Tochter, frustriert und neurotisch, sind hier einfach küchenpsychologische Behauptungen; Vater und Sohn sieht der Regisseur viel genauer, differenzierter; wenn er „die Frau“ aber mythisch statt naturalistisch auffassen darf, wird sie plastisch und imponierend wie in „Medea“ (1969): eine atmende, riesige, aber dabei verstehbare Figur. Es muss dem Regisseur geholfen haben, dass auch die Darstellerin der Rolle längst ein Mythos war: Maria Callas.
Im Gedicht „Marilyn“ erklärt Pasolini die Spannung zwischen dem Archaischen und dem Spekulativen, die seine Mythographie speist, mit einem dialektischen Zeitsprung: „Aus der Welt der Antike und der Welt der Zukunft / überlebte allein die Schönheit.“ Der kulturindustrielle Erdenrest des Mythischen ist bekanntlich das Genre. Dahin scheint es den reiferen Pasolini mit Macht gezogen zu haben.
Nach Werken, die man vor allem wegen ihrer unprätentiösen Nähe zur offenen Sexualklamotte mögen kann (die berühmte „Trilogie des Lebens“, auf der Grundlage einschlägiger Literatur geschaffen: „Decameron“ 1970, „Pasolinis tolldreiste Geschichten“ 1972 und „Erotische Geschichten aus 1001 Nacht“ 1974), bearbeitete er die gewichtigsten Themen (Historizität von Begierden, Faschismus, . . .) in „Die 120 Tage von Sodom“ (1975) im Idiom des – man kann’s nicht anders sagen – Horrorfilms. So ist sein Erbe im italienischen Kino bei einem Krawallbruder wie Gabriele Mainetti („Lo chiamavano Jeeg Robot“, 2015, und, noch wilder, „Freaks Out“, 2021), der stets das volle Risiko eingeht, sich an Stoffen und Themen (Historizität von Begierden, Faschismus, . . .) zu verheben, womöglich besser aufgehoben als bei einem künstlerisch unantastbaren Nationalbotschafter des Filmschönen wie Paolo Sorrentino („La Grande Bellezza“, 2013).
Mit zunehmender Entschlossenheit des Zugriffs auf potentiell ästhetisch ruinöse Stoffe wächst in Pasolinis Kino das Gefühl der Gefährdung als Überdruck, eine lauernde Angst, verschiedene Ziele seiner Arbeit nicht mehr miteinander vermitteln zu können. Persönlich bedroht lebte er ohnehin, spätestens seit der schändlichen Denunziation im Jahr 1949 als Verführer der männlichen Jugend, derentwegen ihn die verspießerte kommunistische Partei seines Landes aus ihren Reihen stieß. Glück, vor allem erotisches, musste er im Verborgenen suchen, im Kinodunkel, auf Baustellen, am Rand der großen Städte, in schlecht oder gar nicht verwalteten Zonen, umzingelt von den Sitten und Gebräuchen einer lieblosen Warenwelt, hinter die es kein nostalgisches Zurück gab: „Die nationalisierten und damit verfälschten ‚Werte‘ der alten bäuerlichen und frühkapitalistischen Welt sind mit einem Schlag unwichtig geworden. Kirche, Vaterland, Familie, Gehorsam, Ordnung, Sparsamkeit, Moral zählen nicht mehr. Nicht einmal das Falsche an ihnen ist zu gebrauchen.“
Was an ihre Stelle trat, sind, wie der Aufsatz von 1975 sagt, aus dem diese Sätze stammen, die multinationalen Konzerne – Pasolini verfluchte sie, auch den damals bekanntesten italienischen Energieriesen: „Ich gäbe, auch wenn er ein Multi ist, den ganzen Montedison-Konzern für ein Glühwürmchen.“ Die bedrohten Tierchen stehen abermals fürs Vorbürgerliche, aber darüber hinaus fürs Vorgeschichtliche, wie der Dialekt, in dem Pasolini oft dichtete.
Nachdem der Mythograph 1975 unter nie geklärten Umständen ermordet worden war, wurde er bald selbst ein Mythos: der linke, schwule Marxist als Passionsimago. Man kann aus abgeklärter politischer Sicht über diese Auratisierung spotten; es ist zum Beispiel gesagt worden: Wenn die Konsumkritik von Pasolinis „Freibeuterschriften“ Marxismus ist, dann ist jedes Naturschutzgebiet eine Sowjetrepublik. Um die Trauer zu verstehen, die das Verschwinden der Glühwürmchen ausgelöst hat, braucht man in der Tat die mühselige Lektüre der Werke von Karl Marx nicht.
Dessen Kritik galt nicht dem Verschwinden der kleinen Lichter, sondern der Unterschlagung der geschichtsbildenden Potenz der Menschen (also auch der Technisierung) durch einen blinden Profitbetrieb, ohne den (und seine „abstrakte Arbeit“) historisch keine Warenwirtschaft herzustellen gewesen wäre, die aber schließlich Vertilgerin von Gebrauchswert werden musste, was Pasolini wohl ästhetisch, aber nie begrifflich zur Kenntnis nahm.Vielleicht wäre er gern ein guter Marxist oder ein guter Christ geworden wie Accattone ein Dieb oder Arbeiter. Die kategorische Ablehnung des Bürgertums immerhin hat er im überwältigenden, erst 1992, siebzehn Jahre nach seinem Tod, aus dem Nachlass publizierten Romantrümmerfeld „Petrolio“ auch diskursiv (wenn schon nicht analytisch) gestaltet, nachdem sie in „Teorema“ bereits eindrucksvolle Bilderbogengestalt angenommen hatten.
In beiden Werken zeichnet der Künstler das Bild einer Klasse, die Urbanität und Liberalismus, Kunst, Wissenschaft und Kultur nur als Ausreden für Abscheuliches im Munde führt und jede Krise, sei sie ökonomisch, geopolitisch, ökologisch oder kulturell, erbarmungslos nutzt, um das gesellschaftliche Kräfteverhältnis weiter zu ihren Gunsten zu verschieben. Ausbeutung, Kriegsgewinnlerei, Raubbau an der Natur, Anomie: Was soll man dagegen setzen? Religion, Mythos, Linksradikalismus? Den heimatlichen Dialekt, den, wie Pasolinis Biograph und Cousin Nico Naldini geschrieben hat, die Mutter des Künstlers sprach, um sich „mit den Kunden der Schnapsbrennerei und den Bauern beim Verhandeln übers Dreschen des Weizens“ zu verständigen? Das alles waren und sind keine Waffen. Pasolini aber verhielt sich dazu wie sein Josef zu dem Stein, auf dem der Mann, dessen Frau den Messias in sich trägt, im Matthäus-Film einen Moment rastet. Das Feste tröstet ihn, es ist hart und alt. Dann kommt ein junger, schöner, androgyner Engel und spricht vom Schicksal des Menschensohns.