Vergangenheit brennt schlecht

Nach zweieinhalb Stunden ist man erschlagen. Von der Dichte und Poesie mancher Bilder, von der Ausstattung, vom Spiel der Figuren und Darsteller, von der Verschlagenheit, der Bosheit, vor allem von den Trümmern eines gigantischen Turmes aus Lüge und Betrug, der nicht nur in Filmen oft dann einstürzt, wenn seine Erbauer sich auf dessen schwankender Spitze gerade in Sicherheit wiegen. Und nichts, was den Zuschauer erlöst (außer, dass Adam Driver mal nicht zu sehen ist).
Kein Silberstreif. Einzig die Gewissheit: Runter kommen sie alle. Guillermo del Toros „Nightmare Alley“ ist die zweite Verfilmung des gleichnamigen Romans von William Lindsay Gresham, der einiges an Grauen gesehen haben muss und daher um die Mechanismen gewusst haben dürfte, die Menschen dazu verleiten, sich in einen Luxus zu flüchten, der keinen je wärmt. 1946 verkaufte er sein erfolgreichstes Buch für etwas mehr als fünfzigtausend Dollar an 20th Century Fox, wo man es unter der Regie Edmund Gouldings mit Tyrone Power in der Hauptrolle verfilmte. In der New York Times vom 10. Oktober 1947 heißt es, der Film begebe sich auf „geschmackloses dramatisches Terrain“ und biete selten „substanzielle Unterhaltung“. Dabei dürfte es schon Goulding um mehr gegangen sein.
Auch del Toro erzählt in „Nightmare Alley“ Geschmackloses, bewegt sich mit seinem dänischen Kameramann Dan Laustsen jedoch stets im von ihm längst gut ausgeleuchteten Terrain hübsch durchkomponierter Unordnung und Drastik. Dass hier substanziell unterhalten, das heißt auch: gewarnt, beinahe gepredigt werden will, kann der Zuschauer bereits anhand der verzückt-erschrockenen Gesichter der Jahrmarktbesucher beobachten, die den „Geek“, einen auf das Tier in sich zurückgeworfenen Menschen, aus sicherer Entfernung begaffen – „für nur einen Vierteldollar!“.
Del Toro erzählt die Geschichte eines bösen Menschen, des Scharlatans Stanton „Stan“ Carlisle, der seinen Hut nur zu tragen scheint, damit er im Regen rauchen kann (es wird mehr geraucht als geatmet in diesem Film). Der Mann ist ein ausgezeichneter Beobachter und daher ein erschreckend guter Schauspieler – wenn ein guter Schauspieler einer ist, der die Ängste seines Publikums spüren und mit seinem Körper so ausbuchstabieren kann, dass es sich darin wiedererkennt, ohne gleich vor Abscheu zu flüchten. Stans zunächst als Aufstieg verkleideter Abstieg beginnt mit der Entdeckung dieser Gabe, zwei Jahre bevor Amerika in den Zweiten Weltkrieg eintritt. Geweckt wird sie von einem anderen Fallenden, dem einstigen Mentalisten und Zauberkünstler „Pete“ Krumbein (David Strathairn), der mit seiner Assistentin Zeena (Toni Collette) früher im Pariser Ritz logierte, nun aber von unterhalb der Bühne der Partnerin assistiert, wenn der Alkohol ihn nicht gerade wieder zu sich holt. Sein Notizbuch birgt die Anleitung, wie man Menschen liest, die man nicht kennt, und wie man ihre „Ängste herausfindet, um sie ihnen wieder zu verkaufen“. Das Buch, die bezaubernde Molly (Rooney Mara), die als „Elektra“ Strom durch ihren Körper fließen lässt und auch Stan elektrisiert, sowie Stans Wille zur Unterwerfung führen ihn bald in eine große Stadt, in der es Aufzüge gibt, die so prunkvoll ausgestattet sind, als führten sie an die Spitze einer modernen Maya-Pyramide, die wiederum selbst aus Maya-Pyramiden besteht. Damit hat Stan die richtige Fallhöhe für dieses dunkle Besinnungsmärchen erreicht.
Der Weg zur Spitze wird von Hungergeistern bewacht
Bradley Cooper gibt diesen „Stan“ nicht so geschwätzig wie einst Tyrone Power, sondern wortkarg, verschlossen mit ungerührter Miene – ein farblos qualmender Drachen ohne Schnur, den der Sturm zu der Jahrmarkttruppe geweht hat. Doch sein Geist – del Toro nimmt sich Zeit, das zu zeigen – entzündet rasch sich an den Farben und Lichtern des „Carnivals“, mehr noch an den Illusionen und Hoffnungen, die dort sowohl an Darsteller als auch ans Publikum verkauft werden – einzig und allein im Dienst der „Wissenschaft und Bildung“, wie Schaustellerchef Willem Dafoe als Clement „Clem“ Hoately mit der kalkulierenden Kälte eines jeden guten Geschäftsmanns versichert.

Es wird garstig. Der Weg zur Spitze wird von jenen Hungergeistern bewacht, die sich dort im ständigen Kampf gegenseitig in Schach halten. Stan begegnet der Psychologin Lilith Ritter, die Cate Blanchett mit dem dick aufgetragenen Make-Up einer gleichsam gezeichneten wie gefräßigen Old-Hollywood-Schneekönigin spielt und vor deren Fenster es denn auch stets schneit. Ihre Praxis ist das schönste Beispiel für die Detailbesessenheit der Szenenbildner, die sich hier bis hin zu Rohrschach-Intarsien auf lackierten Wurzelholzwänden austoben. Ritter wird ihn über Bande mit jenem reichem Mann (Richard Jenkins als Großkapitalist Ezra Grindle) bekannt machen, der auf dem Gipfel seiner Hybris sagt: „Ich habe so viel Geld und keine Hoffnung.“ Und als Stan fragt, ob er glaube, dass er sich Hoffnung kaufen könne, entgegnet: „Ich möchte nicht vermessen klingen, aber ich glaube, ich kann.“ Del Toro macht die Hässlichkeit dieses Mannes (anders als im Original) nicht allein durch Worte deutlich, sondern auch durch Faustschläge. Ein Fragment dieser Hässlichkeit dringt auch in Stan ein. Dass er längst den Fehler begeht, das Gift seiner eigenen Lügen zu schlucken, sehen wir, als Stan, der nicht trinkt, in Ritters Büro zu einem Glas Whisky greift, der bei genauem Hinsehen eigentümlich trüb ist.
„Nightmare Alley“ ist ein Film für die große Leinwand, der zeigt, dass Hollywood am schönsten gruselt, wenn es vor sich selbst erschrickt – und überhaupt vor all den neuen Illusionsverkäufern, die so leichtes Spiel mit den Menschen haben, weil es zu ihrem Wesen gehört, dass die Geschichten, die sie sich über ihr eigenes Leben erzählen, ins Bild passen müssen – sei es wie einst in Muttis Familienalbum, oder im Glück der Instagram-Mamas und -Papas . Der Jahrmarkt, auf dem man das eigene, nach außen gut sortiert wirkende Leben neben das der „Freaks“ halten kann, ohne sich schmutzig zu machen, findet online statt. „Die Menschen verzehren sich danach, zu erzählen, wer sie sind; verzehren sich danach, gesehen zu werden“, sagt Zeena zu Stan.
Und daran will der Regisseur keinen Zweifel lassen: Wir werden gesehen. „Wenn all die Lügen an ihr Ende kommen, dann blickt uns Gott an, von überall“, sagt der alte Krumbein. Das allsehende Auge sieht Stan, als er den „Geek“ zu Beginn durch jene Geisterbahn jagt, in deren Spiegeln sich der Mensch als Sünder erkennen soll, es blickt von der Augenbinde, die Stan bei Auftritten als Mentalist vor der Großstadtschickeria trägt, und es blickt in seiner schrecklichsten Manifestation von der Stirn eines in Ethanol konservierten Babys, das Seelenverkäufer Clem auf den biblischen Namen „Enoch“ getauft hat. So erscheint ausgerechnet das Kino als geeignetes Medium zur Bebilderung des Unterschieds zwischen Sehen und Erkennen. Ausgerechnet? Der Mensch säuft zunehmend ab in Bildern, denen selbst dann nicht mehr zu trauen ist, wenn sie der eigenen Erinnerung entspringen. In „Nightmare Alley“ ist nur wahr, was uns quält, deshalb darf es genau das nicht sein. Doch wenn wir uns selbst so grandios zu täuschen imstande sind, wie sollen uns dann vermeintlich objektive Bilder von Katastrophen unserer Zeit erreichen?
In „Nightmare Alley“ sieht das so aus: Ein beleuchtetes Riesenrad am linken unteren Bildrand, darin johlende Menschen, die nicht aussteigen wollen (und können), dahinter eine die Leinwand ausfüllende Gewitterfront. Ansonsten immer wieder blütenweiße, filterlose Zigaretten, kurz aufglühend, blauen Dunst verbreitend, immer zur Hand, wie die kleinen Lügen des Alltags – wenn man Feuer hat.
