Der preußische Moses

Niemand wird ernsthaft behaupten, Moses Mendelssohn sei vergessen. Aber selbst akademische Experten tun sich schwer, aus dem Stegreif den Titel eines seiner Bücher zu nennen. Dabei hat Mendelssohn in seinen „Briefen über die Empfindungen“ als einer der Ersten in Deutschland eine philosophisch begründete Ästhetik entwickelt und in „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ die platonische Ideenwelt mit monotheistischen Jenseitsvorstellungen zu versöhnen versucht. Mendelssohns Denken schlägt eine Brücke zwischen dem Sensualismus von Locke und Hume und der Systemphilosophie Kants, dem er noch 1763 den Preis der Preußischen Akademie der Wissenschaften wegschnappte. Doch über diese Brücke fließt kein geistesgeschichtlicher Verkehr mehr. Man weiß, wer Mendelssohn war, ohne noch sagen zu können, was er gedacht hat.
In der Ausstellung, die das Jüdische Museum Berlin dem deutsch-jüdischen Aufklärer widmet, sind zahlreiche seiner Schriften als aufgeschlagene Originalbände zu sehen – der „Phädon“ ebenso wie das religionsphilosophische Opus magnum „Morgenstunden“, die kunsttheoretischen „Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften“ oder der nachgelassene Essay „An die Freunde Lessings“, in dem der schwerkranke Mendelssohn den toten Autor des „Nathan“ so gewitzt wie elegant gegen den Atheismusvorwurf eines christlichen Eiferers verteidigt. Über den Inhalt all dieser Werke und der unerschöpflichen Briefwechsel, die sie begleitet haben, erfährt man allerdings wenig. Die Kuratoren Inka Bertz und Thomas Lackmann haben sich stattdessen dafür entschieden, den Menschen Moses Mendelssohn ins Zentrum der Ausstellung zu rücken. Diese Perspektive kommt dem eingeschränkten Erkenntnisinteresse der Gegenwart entgegen. Sie gerät aber rasch an ihre Grenzen.
Mit Pferdegewieher und Rädergeratter
Die Frage, wie man philosophisches Denken in die Zeichensprache von Museumsvitrinen übersetzen kann, hat schon die Diskussion über die Hannah-Arendt-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum vor zwei Jahren geprägt. Im Jüdischen Museum wird sie dadurch beantwortet, dass ein Lautsprecher im ersten Ausstellungsraum mit Pferdegewieher und Rädergeratter die Geräuschkulisse der Residenzstadt Berlin simuliert, das der vierzehnjährige Moses, Sohn eines Gemeindeschreibers aus Dessau, 1743 nach fünftägigem Fußmarsch erreicht. Dann folgt die Wandprojektion einer historischen Stadtkarte, auf der Mendelssohns Wohnhaus, sein Arbeitsplatz in einer Seidenfabrik und die Wohnungen und Villen seiner Freunde, Ärzte und Mäzene erscheinen. Ein Monitor zeichnet die europäischen Spuren der Vorfahren von Mendelssohns Mutter nach, die einer bekannten Familie aschkenasischer Rabbiner und Talmudisten entstammte.
Die Medienfixiertheit der Ausstellung hat den Vorteil, dass man nur den Bildern und Hörstationen folgen muss, um wie auf einem Rollband durch die preußische Aufklärung zu reisen. Der Nachteil besteht darin, dass man auf diese Weise nur an der Oberfläche der Dinge entlangfährt, von denen die Ausstellung handelt. In den Audio-Installationen wird der Besucher mit Clips von höchstens zwei Minuten Länge abgespeist, sodass selbst das titelgebende Briefzitat, in dem sich der späte Mendelssohn beklagt, dass sein Traum „von nichts als Aufklärung“ und vom Sieg der Vernunft über die „Schwärmerey“ ausgeträumt sei, in seiner Dramatik verpufft. „Wie wir sehen, steiget schon, von der andern Seite des Horizonts, die Nacht mit allen ihren Gespenstern wieder empor.“ Wen meint er? Wer waren die deutschen Nachtgespenster? Die Frage verhallt im Museumsraum.

Etwas Ähnliches gilt für die visuelle Gliederung der Ausstellung. Ein Raum steht unter dem Motto „Dialog und Netzwerk“, ein anderer behandelt „Ästhetik und Freundschaft“. Wenn man bedenkt, dass für Mendelssohn Netzwerke und Freundschaften ineinandergriffen, dass er in Cafés und Gartenlauben Gespräche über Ästhetik und Religion führte, hätte man beide Aspekte auch zusammenlegen können. Eine Abbildung zeigt den „Freundschaftstempel“ – zwei Zimmer mit Porträts von Männern und Frauen – im Haus des Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Gleim, ein Freund Lessings und Mendelssohns, war im Siebenjährigen Krieg durch Lobgesänge auf preußische Schlachtensiege bekannt geworden. Die Pointe der preußischen Aufklärung, die Thomas Lackmann in einem Katalogessay als „Hoffnungsfenster“ auf ein Reich der Toleranz bezeichnet, lag darin, dass sie mit der Verherrlichung des absolutistischen Königtums einherging. Von Mendelssohn ist keine Kritik am Alten Fritz überliefert.
Dabei hat der König, der Juden nur als Objekte fiskalischer Abschöpfung akzeptierte, seine Aufnahme in die Berliner Akademie verhindert, und als Mendelssohn nach Potsdam kam, weil ein sächsischer Minister, der ihn bewunderte, um ein Treffen gebeten hatte, ging Friedrich ihm aus dem Weg. Die frei erfundene Begegnung zwischen dem Philosophen und dem roi philosophe fand dennoch Eingang in preußische Anekdotensammlungen. Sie passte einfach zu gut ins Selbstbild einer Zeit, die mit dem Bastillesturm in der Kulisse versank.

So stößt man, sobald man hinter die Rhetorik der Bilder schaut, in vielen Ecken der Ausstellung auf Abgründe. Einige davon leuchten auch die Kuratoren aus. Ein 1856 entstandenes Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim zeigt Mendelssohn an einem Tisch mit Lessing und dem Schweizer Theologen und Physiognomiker Lavater. Zu Oppenheims Zeit war das dargestellte Geschehen bereits legendär. Lavater hatte Mendelssohn aufgefordert, das Christentum entweder zu widerlegen oder zu ihm überzutreten. Mendelssohn verteidigte sich in mehreren öffentlichen Briefen. Gegen Lavaters pietistischen Missionseifer setzte er das Menschenrecht auf Religionsfreiheit.
Es war der entscheidende Moment der Haskala, der jüdischen Aufklärung in Deutschland, über die in der Ausstellung leider wenig zu erfahren ist. Dabei stellt gerade sie die zwingendste Verbindung zur Gegenwart her. Im neunzehnten Jahrhundert geriet Mendelssohn ins Visier assimilationsfeindlicher Zionisten. Im zwanzigsten verdächtigte ihn Carl Schmitt der „Aushöhlung“ der staatlichen Macht. Mendelssohns Talmud-Übersetzung ist unter orthodoxen Juden bis heute umstritten. Seine Einsicht, dass Religion und Gesellschaft getrennte Sphären sind, hat nichts von ihrer Aktualität verloren.
Neben Friedrich dem Großen war Mendelssohn der meistporträtierte Preuße seiner Zeit. Sein Bild war immer auch ein Sinnbild: für die Emanzipation der Juden wie für ihre Selbstbehauptung. Die Kuratoren tun ihm deshalb nicht unrecht, wenn sie neben den wenigen Zeugnissen seines privaten Lebens (etwa der Lesebrille) die ikonischen Darstellungen von Graff, Chodowiecki, Frisch und anderen in den Mittelpunkt rücken. Aber eine Folge von Porträts ist noch kein Porträt. Wenn man sich vorstellt, nicht Zeichnungen und Gemälde, sondern Bücher und Zitate hingen an den Wänden, bekommt man eine Ahnung davon, was im Jüdischen Museum noch möglich gewesen wäre. In sieben Jahren steht mit dem dreihundertsten Geburtstag das nächste große Mendelssohn-Jubiläum an. Das wäre die Gelegenheit, sein Bild für die Nachwelt zu vervollständigen.
„Wir träumten von nichts als Aufklärung“. Moses Mendelssohn. Jüdisches Museum Berlin, bis 11. September. Der Katalog kostet 29,80 Euro.
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