Welche Identität ist denn echt?

Sieht man den Staat und seine Organe als institutionalisierten Ausdruck der moralischen Prinzipien, zu denen sich eine Gesellschaft verpflichtet, bedarf der Einsatz verdeckter Ermittler einer besonderen Begründung. Selbst innerhalb der Justiz und der Strafverfolgungsbehörden ist ihre Rolle umstritten. Wie sehr sie in die falsche Richtung führen können, hat die verzögerte Aufklärung der NSU-Morde gezeigt. In einem anderen Fall flogen in Hamburg 2015 zwei verdeckte Ermittlerinnen auf, die das linksautonome Zentrum „Rote Flora“ infiltriert und auch, instrumentell oder authentisch, Liebesbeziehungen geführt hatten. Weil die Polizei dort eine Terrorzelle oder kriminelle Aktivitäten vermutete. Dass Staatsbedienstete, die mit falscher Identität ins fremde Milieu eintauchen und um der Glaubwürdigkeit wegen an Straftaten teilnehmen, die Seiten wechseln, erscheint psychologisch nachvollziehbar. Inwieweit Freundschaften, Beziehungen und Liebe in falscher Identität echt oder Fake sind, ist die weitere Frage.
Im Hamburger „Tatort: Schattenleben“ nimmt die Autorin Lena Fakler den „Rote Flora“-Undercoverskandal zum Anlass, Kommissarin Julia Grosz (Franziska Weisz) ein dramatisches Privatleben zu geben. Ihr Berufspartner Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) ermittelt derweil brav im Hintergrund, unterstützt vom Kollegen Thomas Okonjo (Jonathan Kwesi Aikins), dem schnell klar wird, warum ausgerechnet er zur Unterstützung der Aufklärung eines Brandanschlags mit Todesfolge abgeordnet wurde. Wenn der einzige schwarze Ermittler beim Verdacht strukturellen Rassismus und Korpsgeist in der Hamburger Polizei eingesetzt wird, lässt das Vorgesetzte im Zweifel gut dastehen, so das Kalkül.
Der Brandanschlag auf das Haus des Bereitschaftspolizisten Bastian Huber (Robert Höller), dem seine Frau zum Opfer fällt, sieht nach der Tat linker Chaoten aus. Zumal es sich um eine Brandserie handelt. Alle betroffenen Polizisten, finden Falke und Okonjo heraus, wurden wegen übertriebener Gewalt bei Verhaftungen auffällig. Interne Ermittlungen verliefen im Sande. Rächt sich die Kiez-Szene? Oder benutzt jemand den Verdacht für eigene Zwecke? In der Nähe des Tatorts hielt sich Ela Erol (Elisabeth Hofmann) auf, die in einem linken „Flinta*“-Wohnprojekt (Flinta* steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nichtbinäre, Trans- und Agender-Personen) lebte.
Die verdeckte Ermittlerin verschwindet
Ela ist verschwunden, nachdem sie Grosz um Hilfe gebeten hatte. Einen verliebten Sommer lang waren die beiden als Polizeischülerinnen vor zwanzig Jahren unzertrennlich. Bis Ela die Beziehung offiziell machen wollte und Grosz dazu nicht bereit war. Ela ist verdeckte Ermittlerin, wohnt mit der mitreißenden Nana (Gina Haller) im feministischen Wohnprojekt. Als Grosz mit falscher Identität Elas Spuren folgt, verwischen sich persönliche Grenzen, wofür die Kamerafrau Zamarin Wahdat Einstellungen großer bildlicher Anziehungskraft, teils rauschhafter Partystimmung findet. Auf welche die Inszenierung der Regisseurin Mia Spenglers Katerstimmung folgen lässt. Auch Elas angeblicher Ex-Freund und ihre bürgerliche Existenz im Pinneberger Einfamilienhaus geraten in den Blick.
Auf Verwirrung folgt in „Schattenleben“ ein trauriges, ungeordnetes Ende. So entschieden uneindeutig der „Tatort“ in mancher Hinsicht ist, so sehr er für Diversität eintritt, so sehr geraten ihm Polizistenfiguren und ihre Handlungen aus dem Blick. Fataler Korpsgeist bringt den Fall zwar ins Rollen, aber man sieht ihn nicht. Die Aufklärung ist mäßig spannend. Das ist wohl Absicht, denn das meiste in diesem „Tatort“ dreht sich um Repräsentanz. Mia Spengler, Lena Fakler, Zamarin Wahdat und die Producerin Sophia Ayissi Nsegue richten die „alte Tante Tatort“ für ein Publikum aus, das sich ansonsten kaum sonntags um 20.15 Uhr zur ARD bemühen würde. Zum ersten Mal sei bei den Öffentlich-Rechtlichen der „Inclusion Rider“ verwendet worden, „eine Vertragsklausel, nach der bestimmte Bevölkerungsgruppen zu einem entsprechenden Prozentsatz an der Produktion beteiligt sein müssen“, heißt es. So neu ist das nicht. Die Diversitätsselbstverpflichtung der UFA versucht Ähnliches, und der SWR-„Tatort: Für immer und dich“ von Julia von Heinz hat 2019 schon überzeugend Beteiligungsproporz vorgenommen. Wer Fernsehen nicht so versteht, dass prominente Formate die ewige Wiederkehr des Bekannten garantieren müssen, erhält hier manche Perspektive. Ein nicht in jedem Detail gelungener, aber auf jeden Fall diskussionswürdiger Beitrag zur Vielfalt der „Tatort“-Reihe.
Der Tatort: Schattenleben läuft an diesem Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.
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