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Kinder von Samenspendern

Wo bist du?

Von Katrin Hummel
21.10.2017
, 14:42
In Frankfurt: Martin Schünke sucht seine Wurzeln in der Stadt, in der er gezeugt wurde. Bild: Wolfgang Eilmes
Vor 40 Jahren wurde Martin Schünke durch eine anonyme Samenspende in Frankfurt gezeugt. Erfahren hat er das erst viel später. Nun sucht er seinen leiblichen Vater. Oder ist es schon zu spät?

Es ist der Sommer vergangenen Jahres. Martin Schünke sitzt nach der Arbeit in seinem Wohnzimmer auf der Couch, den Laptop auf den Knien, und gibt die Worte „Vladimir Delavre„ in das Suchfenster von Google ein. 5200 Treffer. Die wichtigsten Informationen: Delavre ist 2007 gestorben, er war Gynäkologe, spirituell orientiert, und hat sich viel mit Fotografie beschäftigt. Schünke findet auch Fotos. Delavre war dunkelhaarig. Auf Bildern, auf denen er lächelt, sieht er aus wie ein Frosch.

Martin Schünke ist 40 Jahre alt. Er lebt seit einigen Jahren in Bulgarien, hat keine Familie, aber eine Freundin, und arbeitet als Teamleiter in einer Firma für pharmazeutische Forschung in Sofia. Geboren wurde er in Frankfurt, seine Mutter lebt immer noch dort. Schünke ist dunkelhaarig, er interessiert sich für Spiritualität und Fotografie. Und wenn er lächelt, sieht er aus wie ein Frosch.

Wenn der eigene Vater nicht der leibliche Vater ist

Von Vladimir Delavre hört er das erste Mal, als er 18 Jahre alt ist - wenn auch nur indirekt. Damals schreibt er seinem Vater, der die Familie verlassen hatte, als Schünke zwei Jahre alt war, einen Brief. „Ich wollte wissen: Wer ist dieser Mann? Lebt er noch? Und was hat er all die Jahre gemacht?“ Er hat einige Bilder von sich als Baby, auf denen der Vater ihn liebevoll an sich drückt. Daran hat er sich immer festgehalten. Nun, als Erwachsener, fehlt ihm der Vater. Er will seine Wurzeln finden, also auch die Leere füllen, die das Verschwinden des Vaters hinterlassen hat. Tatsächlich antwortet der Vater auf den Brief. Er schreibt: Schön, von dir zu hören, aber ich bin gar nicht dein Vater.

„Ich habe mich gefühlt, als täte sich unter mir der Boden auf“, sagt Schünke heute, 22 Jahre später. Der Mann, den er ganz selbstverständlich für seinen Vater gehalten hat, erklärt ihm, dass er durch eine Samenspende gezeugt worden sei. Er selbst sei zeugungsunfähig, weil er als Junge Mumps gehabt habe. Also habe er sich mit Schünkes Mutter für eine Samenspende entschieden. Nach der Geburt habe er sich als Vater in die Geburtsurkunde eintragen lassen. Das sei kein Problem gewesen, schließlich seien sie verheiratet gewesen. Die Ehe ging nach zwei Jahren in die Brüche. Und er habe keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn gehalten, weil er eben nicht sein leiblicher Sohn sei.

Als Martin Schünke gezeugt wurde, war es noch nicht möglich Samen einzufrieren. Die Samen mussten also frisch gespendet worden sein. Bild: dpa

Für Martin Schünke war das ein Schock. Er war "“unglaublich enttäuscht“ von seiner Mutter. „Alles, was ich mein Leben lang geglaubt hatte, stimmte nicht.“ Er habe sich orientierungslos gefühlt, mutterseelenallein, zum ersten Mal in seinem Leben. Er war so fassungslos, er fragte sich sogar, ob seine Gefühle angemessen waren. Übertrieb er? War das alles gar nicht so schlimm?

Seine Mutter, von ihm zur Rede gestellt, stammelte unter Tränen: „Warum hätte ich es dir sagen sollen? Du bist gesund, wir sind eine Familie. Ich wusste nicht, wie und wann.“ Martin Schünke ging auf Distanz zu ihr. Sogar ihrer Pfarrerin hatte sie erzählt, dass er ein Spenderkind sei – nicht aber ihm selbst. „Das war ein extrem beschissenes Gefühl, weil sie jemand anderem mehr vertraut hat als mir.“

Sind soziale Väter wichtiger?

Nach etwa fünf Jahren näherte er sich ihr wieder an. „Sie weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat, aber das war eine andere Generation“, sagt er heute. Das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung, seit 1989 ein Persönlichkeitsrecht, gab es 1976 noch nicht. Und so ging Schünke im Alter von 23 Jahren zur Tagesordnung über. Er versuchte, sein Wissen zu verdrängen und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Hatte er nicht einen Adoptivvater, den zweiten Mann seiner Mutter, der ihn großgezogen hatte? Hatte er nicht einen väterlichen Freund, den er im Zivildienst kennengelernt hatte und mit dem er sich so innig verbunden fühlte, dass ihm fast das Herz überging, wenn er ihn traf? Gene, sagte sich Schünke zur Selbstvergewisserung, sind wie Sand in einem Sandkasten. Entscheidend ist nicht, was das für ein Sand ist, ob der nass oder trocken ist, fein oder grob. Sondern das, was du daraus machst: „Eine Burg? Oder doch lieber eine Kugel? Du kannst es dir aussuchen.“

Mit oder ohne Vater aufgewachsen? So eindeutig ist es bei Martin Schünke nicht. Eigentlich hat er vier Väter, doch keiner ist so wirklich für ihn da. Bild: dpa

Die Debatte um nature versus nurture, also den Einfluss der Abstammung gegenüber der Erziehung, entscheidet Martin Schünke mit 23 Jahren für sich: Die Sozialisation ist wichtiger als die Gene.

Und dann beginnt er doch mit der Suche nach dem biologischen Vater. 2016 ist er 39 Jahre alt. Und seine neue Freundin, sagt er, „ist so ein Jetzt-gleich-machen-Typ“. Sie schickt ihm einen Link zu einer Reise-Website, auf der es ein Gewinnspiel gibt. Man kann dort einen Gentest hochladen und herausfinden, woher die eigenen Vorfahren kommen. Der Gewinner kann eine Reise zu all seinen Herkunftsorten gewinnen. „Auf der Website war auch ein Video, das war gut gemacht. Da waren schöne junge Menschen, die aufgeregt ihren Gentest öffneten und dann herausfanden, dass sie zum Beispiel Vorfahren in der Mongolei hatten, obwohl sie sich immer für Amerikaner gehalten hatten.“

Er beschließt, ebenfalls einen Gentest zu machen, die Ergebnisse aber nicht auf der Reise-Website hochzuladen, sondern auf der Website familytree.com, die bei der Suche nach den eigenen Vorfahren hilft.

Spenderkinder schließen sich zusammen

Und er fragt seine Mutter nach Einzelheiten der Zeugung. Martin Schünke ist nun sehr neugierig. Er will sich nicht länger dem unausgesprochenen Wunsch der Mutter beugen, nicht nach seinem leiblichen Vater zu suchen. Was die Mutter ihm noch über seine Zeugung sagen kann, ist allerdings nicht viel: Der Arzt, der ihr die Samenspende damals in seiner Praxis an der Frankfurter Zeppelinallee einsetzte, hieß Vladimir Delavre. Wer der Spender war, weiß die Mutter nicht.

Martin Schünke sucht also nach Vladimir Delavre und nach Schicksalsgenossen. So findet er die Website spenderkinder.de, auf der sich Menschen zusammenschließen, die ihren Samenspender oder Halbgeschwister suchen. Und tatsächlich: Er findet heraus, dass es zum Zeitpunkt seiner Zeugung, 1976, nur drei Kliniken in Deutschland gab, die offiziell künstliche Befruchtungen vornahmen. Samen einfrieren konnte man noch nicht. Daraus schließt er, dass der Samen in der Praxis von Vladimir Delavre frisch gespendet und seiner Mutter direkt eingeführt worden sein muss. „Delavre muss den Spender gekannt haben“", sagt Schünke. „Wenn er es nicht vielleicht sogar selbst war.“

Er schreibt der Witwe des im Jahr 2007 gestorbenen Arztes einen Brief. „Es ist unglaublich schwierig, innere Ruhe zu finden, wenn man 50 Prozent von dem, was einen ausmacht, nicht kennt“, schreibt er. „Die Ungewissheit ist eine große Belastung. Für mich ist die Suche nach meinem biologischen Vater eine Suche nach meiner Heimat – der Heimat in mir selbst. Mir geht es nicht um rechtliche Ansprüche, ich möchte nicht in das Privatleben des Spenders, ohne dessen Mut und Hilfsbereitschaft ich nicht geboren worden wäre, eindringen und Unruhe stiften. Ich möchte nur ein Kapitel abschließen und meine biologische Heimat finden.“

Der Mann, den Martin Schünke für seinen Vater gehalten hatte, war nach eigenen Angaben zeugungsunfähig. Darum entschlossen sich die Eltern zu einer Samenspende. Bild: dpa

Die Witwe antwortet ihm, gibt aber vor, nichts zu wissen. Er weiß nicht, ob er ihr das glauben soll. „Vielleicht würde ich an ihrer Stelle auch sagen, dass ich nichts weiß. Es war ja lange ein Tabu-Thema.“

Vier Väter und doch keiner da

Der nächste Schritt: eine Familienaufstellung. Dabei stehen die Teilnehmer stellvertretend für Familienmitglieder in einem Raum. So sollen Muster in einem Familiensystem deutlich werden. In seiner Aufstellung stehen seine „vier Väter“, also vier Teilnehmer, hintereinander vor ihm. „In meinem Herzen weiß ich, dass es dich gibt“, sagt der Samenspender, der erste in der Reihe. „Das hat mich sofort weggehauen“, erinnert sich Schünke. „Mir sind die Tränen gekommen.“ Dahinter der Mann, den er bis zu seinem 18. Lebensjahr für seinen Vater gehalten hat. Zu ihm sagt Schünke: „Danke für deinen Mut.“

Dahinter sein Adoptivvater, der Mann, den seine Mutter nach dem Verschwinden ihres ersten Manns geheiratet hat, der also von seinem zweiten Lebensjahr an sein sozialer Vater war. Ihm dankt Schünke dafür, dass er ihn großgezogen hat, obwohl er ihm heute nicht mehr so nah ist wie früher. Und dahinter noch der väterliche Freund, den Schünke während seines Zivildienstes im Seniorenheim kennengelernt hat und zu dem er bis zu dessen Tod vor einigen Jahren eine enge Beziehung hatte. „Wir haben uns sehr innig in den Arm genommen und gar nichts gesagt“, erzählt Schünke. Das alles hieß für ihn: „Im Prinzip habe ich vier Väter, aber keiner ist für mich da.“

Die Dankbarkeit reicht oft nicht aus

Bei der Familienaufstellung geschieht dennoch etwas Bedeutendes. Schünkes Wut auf den Vater aus seinen ersten beiden Lebensjahren, der einfach abgetaucht ist, schlägt um in Dankbarkeit: Ohne seinen Mut, das Kind eines Samenspenders großzuziehen, wäre er nie geboren worden. Auch seinem biologischen Vater ist er nun dankbar, weil der den Mut hatte, ihn zu zeugen, auch wenn er sich nie zu erkennen gegeben hat. Und er ist dankbar, dass seine Mutter bereit war, das Sperma dieses Manns, den sie wahrscheinlich gar nicht kannte, in sich aufzunehmen. „Ich hadere nicht. Ich bin froh, dass es mich gibt.“

Und doch sind da diese Momente, in denen Dankbarkeit nicht hilft. Dann überfällt ihn die Trauer wie eine schwarze Hand, die ihn von hinten packt und würgt. Der Schmerz ist dann so intensiv, dass er nicht mehr aufhören kann zu weinen, dass er schluchzend zusammensinkt und sich fühlt, als sei er ganz allein auf der Welt. In solchen Momenten fragt er sich: Gibt es Schlimmeres, als nicht zu wissen, woher man zur Hälfte stammt? Etwas Schlimmeres, als diese Wunde zu spüren, die tief klafft und nur verschlossen werden könnte, wenn der biologische Vater sich zu ihm bekennen würde?

Die Sehnsucht hat viele Auslöser

„Die Sehnsucht nach Anerkennung und Bestätigung durch meinen echten Vater wird dann geradezu übermächtig“, sagt Schünke. „Die Sehnsucht, von ihm gesagt zu bekommen, dass alles gut ist, dass ich alles richtig mache und dass er stolz auf mich ist.“ Auslöser sind oft Songs oder Filmszenen, in denen es um die Liebe zwischen Vater und Kind geht. Zum Beispiel heißt es in dem Song „For The Widows In Paradise, For The Fatherless In Ypsilanti“ von Sufjan Stevens: „If you have a father / or if you haven't one“. Schünke kann dieses Lied nicht hören, ohne zu weinen. Und in „Father, Son“ von Peter Gabriel heißt es:“Got my dad by my side / With me“. Wenn er das hört, wird der Gedanke, dass er seinen Vater womöglich niemals kennen wird, fast unerträglich.

Nach einigen Wochen bekommt er von familytree.org das Ergebnis des Abgleichs mit den Gentests anderer Mitglieder. Zu seiner Überraschung stellt sich heraus, dass er zur Hälfte jüdischer Abstammung ist. Auch Delavre war Jude, seine Familie stammt aus Osteuropa.

Ist es nicht sonderbar, dass er selbst schon vor einigen Jahren nach Bulgarien ausgewandert ist und nun in Sofia eine neue Heimat gefunden hat? Warum hat er das gemacht? Er glaubt, nun die Antwort zu kennen: "“Wenn ich meine Wurzeln nicht finden kann, gehe ich eben dahin, wo meine Wurzeln sind. 47 Prozent von mir stammen aus dieser Gegend, der jüdischen Diaspora.“

Schünke kann sich inzwischen vorstellen, dass Delavre sein Vater ist. Aber natürlich ist ihm auch klar, dass das Wunschdenken sein kann. Dass auch ein anderer Mann zum Beispiel aus der jüdischen Gemeinde in Frankfurt sein leiblicher Vater sein könnte.

Die Hoffnung bleibt

Deswegen überlegt er, eine Anzeige in Zeitungen zu schalten, um den Spender ausfindig zu machen, auch um eventuelle Geschwister zu finden. Er hat auch überlegt, einen Brief an die jüdische Gemeinde in Frankfurt zu schreiben und ein Bild von sich mitzuschicken: „Hat jemand 1976 Samen gespendet und sieht mir ähnlich? Erkennt mich jemand wieder?“ Mit anderen Worten: Vater, wo bist du?

Und noch eine kleine Hoffnung hat er. Delavre arbeitete nach der Schließung seiner Praxis in einer anderen Praxis mit, die es noch gibt. Angerufen hat Schünke dort noch nicht, dafür sei die Zeit noch nicht reif. Und was, wenn sein Vater noch lebte? Wenn er ihn fände? „Ich weiß gar nicht, was ich von dem Mann wollte“", sagt er zögernd. „Es wäre okay, ihn mal zu treffen, mir seine Lebensgeschichte anzuhören, nach Krankheiten in der Familie zu fragen und zu erfahren, warum er vor 40 Jahren Samen gespendet hat.“ Er würde einfach seine Fragen stellen. „Und dann mein Leben weiterleben.“

Quelle: Frankfurter Allgemeine Magazin
Katrin Hummel
Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
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