Weiße Gelehrte unerwünscht
Die American Philological Association ist eine altehrwürdige Einrichtung. Gegründet wurde sie 1869, mithin zu einer Zeit, als es nur eine Philologie gab, nämlich die Klassische, und es sich von selbst verstand, dass sie von weißen Männern betrieben wurde. 2014 kamen die Mitglieder darin überein, die Vereinigung nordamerikanischer Altertumsforscher in Society for Classical Studies (SCS) umzubenennen. Seither macht man dort lieber Politik als Wissenschaft. Keine zwei Wochen nach der bestialischen Tötung von George Floyd am 25. Mai dieses Jahres veröffentlichte der Vorstand der SCS ein flammendes Plädoyer gegen Polizeigewalt und Rassismus im Internet. Darin wird die „Komplizenschaft der Altertumswissenschaften“ angeprangert, die rassistische Strukturen im Bildungswesen aufgebaut und „anti-schwarze“ Vorstellungen verbreitet hätten.
Die Selbstanklage einer elitären Disziplin, deren Vertreter es in der Vergangenheit oft mit den Reichen und Mächtigen gehalten haben, kann in einem Moment politischer Konvulsion und sozialer Konfrontation nicht überraschen, zumindest aus historisch vergleichender Perspektive. Für nicht wenige Deutsche war nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kulturbruch des Holocausts die Erkenntnis höchst verstörend, dass auch Zöglinge humanistischer Gymnasien tief in das nationalsozialistische Unrecht verstrickt waren – nicht nur als Väter von Mördern, sondern als selbstverantwortliche Täter. Egidius Schmalzriedt brachte es in seiner skandalträchtigen Tübinger Antrittsvorlesung von 1970 auf den Punkt: Die Verherrlichung des „Klassischen“ in bürgerlichen Schulen und Wohnzimmern habe Platon und Thukydides, Horaz und Tacitus zu Kronzeugen des Faschismus gemacht. Gegen solche Angriffe beschworen die verschreckten Verteidiger der Altertumswissenschaften zunächst das humanistische Erbe Europas, öffneten sich dann aber allmählich – und keineswegs immer frohen Herzens – einer kritischen Disziplinengeschichte.
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