„Es gibt keinen sicheren Ort“

Kaum haben die russischen Streitkräfte das Luhansker Gebiet in der Ostukraine vollständig unter ihre Kontrolle gebracht, bombardieren sie diejenigen Teile der Region Donezk, welche die Invasoren bisher nicht kontrollieren. In der Nacht auf Dienstag sind nach Angaben des Donezker Gouverneurs Pawlo Kyrylenko die Städte Slowjansk und Kramatorsk beschossen worden. Sie sind laut dem Gouverneur die Hauptangriffsziele der derzeitigen Offensive.
„Slowjansk! Massives Bombardement der Stadt. Im Zentrum, im Norden. Alle in die Luftschutzkeller“, schrieb der dortige Bürgermeister Wadym Ljach am Dienstagnachmittag auf Facebook. Mit der Aussage, so viele Menschen wie möglich aus der Stadt zu bringen, rief er zur Evakuierung auf. Bei einem Angriff auf einen Markt wurde laut Polizeiangaben eine Frau getötet. Mindestens drei Menschen wurden verletzt. In Kramatorsk berichtete Bürgermeister Oleksandr Gonscharenko von nächtlichen Luftangriffen. Menschen sollen dabei nicht ums Leben gekommen sein.
Die russischen Angriffe im Donezker Gebiet betreffen bei Weitem nicht nur die beiden strategisch wichtigen Städte. Vielmehr greift Russland auf großer Fläche an. „In der Region Donezk gibt es keinen sicheren Ort ohne Beschuss“, sagte Gouverneur Kyrylenko am Dienstag. Diese Aussage mag auch Appell an die Bevölkerung sein, Schutz zu suchen.
Doch in der Tat geschahen die Bombardierungen von Montag bis Dienstag in verschiedenen Orten, die direkt an der Grenze zu den russisch kontrollierten Gebieten oder nur wenige Kilometer entfernt davon liegen. Laut dem Gouverneur sollen durch russischen Bombardements seit dem 24. Februar mindestens 563 Menschen getötet und 1467 verletzt worden sein. Kyrylenko räumte zugleich ein, dass es schwierig sei, die tatsächliche Opferzahl festzustellen, da im Frühjahr unter heftigem Beschuss stehende Städte wie Mariupol und Wolnowacha derzeit unter russischer Kontrolle stünden.
Bombardierungen, um Gegenangriffe zu verhindern
Die russische Offensive hat sich von der Luhansker auf die Donezker Region verlagert, obwohl der russische Präsident Wladimir Putin am Montag gesagt hatte, die an der „Befreiung“ des Luhansker Gebiets beteiligten Soldaten sollten sich ausruhen. Zugleich hatte Verteidigungsminister Sergej Schojgu angekündigt, die „militärische Spezialoperation“ fortzusetzen. Die danach durchgeführten russischen Angriffe zeigen, dass von einem Ausruhen keine Rede sein kann.
Nicht nur im Donbass kam es von Montag bis Dienstag zu russischen Bombardements. Über Angriffe aus der Luft berichteten am Dienstag auch die Behörden in und um die Großstädte Mykolajiw, Dnipro und Charkiw. „Am Morgen feuerten die Besatzer Raketen auf Mykolajiw ab“, schrieb Bürgermeister Oleksandr Senkewitsch auf Telegram. Die Stadt liegt nur rund 30 Kilometer vom russisch kontrollierten Gebiet um die Stadt Cherson entfernt.


Noch näher an von Invasoren besetzten Gebieten liegt die Großstadt Charkiw. Wie zwischen Mykolajiw und Cherson erfolgten jüngst die Bombardierungen im Umland von Charkiw vor allem in jenen Ortschaften, die in den vergangenen zwei Monaten durch ukrainische Kräfte befreit wurden. In der weiter im Landesinnern gelegenen Großstadt Dnipro meldete die ukrainische Luftwaffe, am Dienstagmorgen sechs russische Geschosse abgefangen zu haben, während ein siebtes in ein Wohnhaus eingeschlagen sei.
Der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch will sich von den Angriffen an verschiedenen Fronten allerdings nicht beeindrucken lassen. „Das ist der letzte Sieg für Russland auf ukrainischem Territorium“, sagte er am Dienstag über die jüngsten russische Eroberung der Städte Lyssytschansk und Sewerodonezk im Luhansker Gebiet. „Das waren Städte mittlerer Größe. Und es hat vom 4. April bis zum 4. Juli gedauert – das sind 90 Tage“, sagte Arestowytsch in einer Videobotschaft. „Sie haben einen hohen Preis für Sewerodonezk und Lyssytschansk bezahlt“, sagte der Präsidentenberater weiter. 60 Prozent der russischen Streitkräfte seien im Osten gebunden, und es gebe keine Kräfte mehr, die aus Russland herangeschafft werden könnten.
Auch das britische Verteidigungsministerium erklärte in seinem Lagebericht vom Dienstag, die russischen Vorstöße im Donbass seien bisher langsam vonstatten gegangen. Es sei „realistisch“, dass sich die ukrainischen Kräfte auf eine Frontlinie zurückzögen, die besser zu verteidigen sei.
Die jüngsten russischen Luftangriffe auf Gebiete, welche die Ukrainer zuletzt wieder unter Kontrolle haben, lassen sich dahingehend deuten, dass Moskau weitere Gegenangriffe verhindern will. Dazu passt die von der russischen Nachrichtenagentur RIA verbreitete Aussage eines Vertreters der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk, die ukrainischen Truppen müssten bis in die Region Kiew zurückgedrängt werden. Nach Angaben aus Russland gelang es ukrainischen Kräften am Dienstag trotz der russischen Offensive, Ziele in den beiden russischen Grenzregionen Brjansk und Kursk anzugreifen. Ukrainische Vertreter äußerten sich dazu nicht.
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