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Bibbiano ist ein Städtchen von rund zehntausend Einwohnern in Norditalien. Ende Juni wurde dort Anklage erhoben gegen 27 Verdächtige, darunter Psychologen und Psychotherapeuten, Ärzte und Sozialarbeiter. Auch der Bürgermeister steht unter Hausarrest. Den Angeklagten werden Kindesmisshandlung und Körperverletzung, Betrug und Amtsmissbrauch, Fälschung von Dokumenten und Diagnosen sowie allerlei weitere Delikte vorgeworfen.
Im Zentrum der Ermittlungen steht ein privates Psychotherapiezentrum für Kinder und Jugendliche, das von der gemeinnützigen Stiftung „Hansel e Gretel“ aus Turin betrieben wird. Den Namen für ihre Stiftung haben deren Gründer mit Bedacht gewählt. Im Märchen der Brüder Grimm sind die Eltern von Hänsel und Gretel bekanntlich so arm, dass sie ihre Kinder im Wald aussetzen.
Auch die Turiner Stiftung, geführt von dem bekannten Jugendpsychologen Claudio Foti, nahm sich in Bibbiano armer Kinder und Jugendlicher an. Und in einer fast unheimlichen Parallele zum Märchen sorgten der Hauptangeklagte Foti und seine Helfer dafür, dass auch die Kinder von Bibbiano ihre bitterarmen Elternhäuser verlassen mussten.
Polizei und Staatsanwaltschaft nahmen vor einem Jahr Ermittlungen auf. Auslöser war, dass in Bibbiano und Umgebung überdurchschnittlich viele Fälle von Kindesmissbrauch gemeldet worden waren. Und zwar fast immer vom Psychotherapiezentrum „Hänsel und Gretel“. Die Strafverfolger gehen inzwischen davon aus, dass die Missbrauchsfälle fast alle erfunden waren. Und zwar von einer kriminellen Clique, zu der die Betreiber und Mitarbeiter von „Hänsel und Gretel“ gehörten, aber auch Leute im Rathaus bis hinauf zum Bürgermeister. Wie viele Kinder Opfer der Machenschaften wurden, teilte die Staatsanwaltschaft nicht mit. Nach Medienberichten sollen es knapp drei Dutzend sein. Viele von ihnen haben nach Mitteilung der Ermittler heute Drogenprobleme, fügen sich selbst Verletzungen zu, sind abermals in psychotherapeutischer Behandlung.
Die betroffenen Kinder und Jugendlichen stammten aus Familien in prekären Verhältnissen: Arbeitslose, Alleinerziehende, Migranten, kinderreiche Familien mit geringem Einkommen. Die Therapeuten redeten ihnen ein, sie seien daheim misshandelt oder missbraucht worden. Da dies den wirklichen Erfahrungen der Kinder widersprach, wurde deren Gedächtnis „aufgefrischt“. Dazu gab es eine „kleine Erinnerungsmaschine“, die unter Verwendung von elektrischen Impulsen die verschütteten Erinnerungen, die es in Wirklichkeit gar nicht gab, zutage fördern sollte. Zeichnungen, die von den Kindern auf Geheiß angefertigt worden waren, wurden von den Therapeuten so „ergänzt“, dass man daraus sexuelle Übergriffe sollte herauslesen können. Oder die Bilder wurden gleich selbst von den Therapeuten im Stile kindlicher Krakelei angefertigt.
Mit Rollenspielen, bei welchen die Therapeuten furchterregende Masken trugen, wurde den Kindern suggeriert, so seien ihre grausamen Eltern. In der Anklageschrift ist von systematischer Gehirnwäsche und von exorzistischen Praktiken die Rede. Mit dem „Erfolg“, dass das Jugendamt den leiblichen Eltern das Sorgerecht entzog und die Verbringung der Kinder bei Pflegeeltern anordnete.
Die Pflegeeltern bezahlten das Therapiezentrum für die Überstellung der Pflegekinder, anschließend kassierten sie von der Stadt Bibbiano teils überhöhte Tagessätze für deren Versorgung. Unter den Pflegeeltern befanden sich die Betreiber eines Sexshops, psychisch Kranke sowie Elternpaare, deren eigene Kinder sich umgebracht hatten. In mindestens zwei Fällen kam es nach Überzeugung der Ermittler bei den Pflegeeltern dann tatsächlich zum sexuellen Missbrauch.
Als Sozialarbeiterin war für das Therapiezentrum eine bekannte lesbische Aktivistin tätig. Sie soll persönlich dafür gesorgt haben, dass ein Mädchen, das nach erfolgter „Therapie“ ihren leiblichen Eltern weggenommen wurde, an ein ihr bekanntes lesbisches Paar zur Pflege übergeben wurde. In der Pflegefamilie musste sich das Mädchen die Haare kurz schneiden lassen, weil sie mit langem Haar „attraktiver für Jungen“ gewesen wäre, wie es in der Anklageschrift heißt. Weiter ist darin von einer „obsessiven ideologischen Orientierung“ der beiden Pflegemütter die Rede. In zwei weiteren Fällen sollen Pflegekinder auf Geheiß der Sozialarbeiterin ehemaligen Geliebten von ihr zugesprochen worden sein.
Finanziert wurde das private Therapiezentrum aus dem Budget der Stadt Bibbiano. Für die Therapiesitzungen berechnete das Zentrum einen Stundensatz von 135 Euro. Der übliche Betrag liegt bei 60 bis 70 Euro. Außerdem hätten die staatlichen Gesundheitszentren in Bibbiano und in anderen Städten der Provinz Behandlungen angeboten, ohne zusätzliche Kosten für die Stadtverwaltung. Der Bürgermeister versicherte vor Gericht, er habe die Entscheidung für „Hansel e Gretel“ nicht alleine getroffen, sondern gemeinsam mit dem Magistrat.
Der Fall Bibbiano ist auch deshalb zum Gegenstand nationaler Erregung geworden, weil der Bürgermeister dem sozialdemokratischen „Partito Democratico“, kurz PD, angehört, der derzeit stärksten Oppositionspartei in Rom. Er lässt seine Parteimitgliedschaft für die Dauer des Verfahrens ruhen, vom Bürgermeisteramt wurde er suspendiert. Auch die ehemaligen Bürgermeister zweier Nachbarstädte von Bibbiano, die ebenfalls in den Skandal verwickelt sind, gehören dem PD an. Seit Jahr und Tag ist Bibbiano eine Hochburg der italienischen Linken. Die Region Emilia-Romagna, zu der Bibbiano gehört, ist die letzte Region im Norden des Landes, die vom PD regiert wird. In den anderen Nordregionen herrschen inzwischen rechte Regionalpräsidenten.
Für die Regierungsparteien in Rom, vor allem für die rechtsnationalistische Lega von Innenminister Matteo Salvini, ist der Skandal von Bibbiano ein gefundenes Fressen. Salvini zeigte sich angeekelt von dem „unglaublichen Fall“ und kündigte die Einsetzung einer parlamentarischen Kommission zur Untersuchung aller privaten Einrichtungen in der Jugendpsychiatrie. Am Dienstag sprach Salvini in Bibbiano mit Betroffenen und versicherte, die „verliehenen“ Kinder würden allesamt zu ihren biologischen Eltern zurückkehren.
Auch die linkspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung von Arbeitsminister Luigi Di Maio will alle Einrichtungen im Land, die sich missbrauchter Kinder und Jugendlicher annehmen, durchleuchten lassen. Denn „das Modell, das die Sozialdemokraten in der Emilia-Romagna propagiert haben, wurde als Albtraum entlarvt“, sagte Di Maio.
Diese Aussage brachte ihm eine Verleumdungsklage der Sozialdemokraten ein. Zwar fordert auch der sozialdemokratische Parteichef Nicola Zingaretti eine vollständige Aufklärung der Vorwürfe. Er warnt aber davor, „dieses Drama politisch zu instrumentalisieren“ – für eine Hetzkampagne gegen Linke und Homosexuelle. Mit dieser Warnung stößt Zingaretti freilich auf taube Ohren. Längst hat die Rechte damit begonnen, die Causa Bibbiano als exemplarischen Fall für die Untaten linker „Sozialingenieure“ hinzustellen: Diese würden die biologischen Familien zerstören, unbescholtenen Leuten deren Kinder wegnehmen, diese zur Gesinnungspflege an ihre politischen Freunde weiterreichen und dabei noch kräftig kassieren.