Ritter Fips gegen die Windmühle

Als es schon spät am Freitagabend war, viele Piraten sich längst draußen um die Grillstände drängten, von denen aus in dicken Schwaden der Bratwurstdampf in die Halle zog, da hatte die Versammlungsleitung eine ungewöhnliche Idee. Sie ließ das Saalmikrofon angeschaltet. Stundenlang hatten die Piraten in der Halle darüber debattiert, ob sie künftig einen nie endenden Parteitag im Internet abhalten wollen, die sogenannte Ständige Mitgliederversammlung (SMV). Ein Grundsatzstreit. Immer gereizter waren Argumente ausgetauscht worden, Bier war geflossen. Nun warteten alle auf die Ergebnisse der Abstimmung. Und ein Pirat nach dem anderen trat ans Mikrofon heran und nutzte die Gelegenheit einfach mal zu sagen, was ihm gerade so einfällt. Man zitierte Gedichte vom Ritter Fips und seiner Rüstung, bedankte sich bei der „AG Single Malt“, rief zur Mitarbeit auf, sang ein Lied, fragte nach was zum Kiffen. Sagte „Penis“ (viel Applaus) und „Pferd“ (wenig Applaus). 15 Sekunden Ruhm für jeden Basispiraten. Erst nach fast einer halben Stunde, kurz vor Mitternacht, war die Auszählung beendet, das Ergebnis verkündet, die Anträge abgelehnt. Und das Mikrofon wurde ausgeschaltet.
Beim Parteitag in Neumarkt wollten die Piraten alles anders machen. Endlich Inhalte, endlich Aufbruchstimmung, endlich positive Berichterstattung. Viele Monate schon hat die Partei in Umfragen nicht mehr die Fünfprozenthürde überspringen, viele Monate schon war kaum ein Bericht über die Partei erschienen, der ohne den Namen des ungeliebten Politischen Geschäftführers Johannes Ponader auskam. Auch wenn Ponader schon vor einiger Zeit angekündigt hatte, in Neumarkt zurückzutreten, so ist der Einzug in den Bundestag nach der Wahl im September für die Piraten längst nicht mehr nur in Gefahr. Er erscheint fast unmöglich.
Nach vorne, nach links
Die Parteispitze hatte versucht, sich auf diese Situation einzustellen. Eine Tagesordnung war formuliert worden, die von den mehr als 1000 Piraten auf dem Parteitag auch angenommen wurde. Aus vielen einzelnen Anträgen war ein riesiger Sammelantrag zum Wahlprogramm destilliert worden. Sogar eine Losung für den Parteitag hatte man vorbereitet. Man hatte sich in der Parteiführung in kleiner Gruppe getroffen, um sie zu finden. Am Ende hat der Vorsitzende Bernd Schlömer entschieden. Heraus kam der Satz „Wir stellen das mal infrage“. Die Parteitagsredner wurden informiert und so tauchte der Satz auch gleich in der Eröffnungsrede von Bruno Gert Kramm auf. Der bayerische Spitzenkandidat - stets mit Hut, Zackenbart und rot gefärbtem Haar -, schrie also in den Saal: „Ihr sagt: ‚Die Piraten haben keine Chance?‘. Wir werden euch ab diesem Wochenende entgegenrufen: ‚Wir stellen das infrage!‘.“

Kramm gehört zur Parteiprominenz und schaffte es in seiner Rede sogleich, den Piraten vor allem eines zu vermitteln: Zuversicht. Er sprach von der „Unentbehrlichkeit der Piraten für den grundlegenden Wandel unserer Gesellschaft“. Er attackierte die Konkurrenz: „Diese Regierung druckt nur noch Etiketten mit Haltbarkeitsdatum bis zum Wahltag, für Ideen die bereits letztes Jahrtausend abgelaufen sind.“ Und er schlussfolgerte daraus, was seit der Gründungszeit zum Selbstverständnis der Piraten gehört: „Hier wird unsere Politik zur Notwehr.“ Ausrufezeichen.
Kramm gab vor, wo es hingehen soll. Nach vorne, nach links. Stürmisch war der Applaus, „Zugabe“-Rufe waren zu hören. Der Pirat misstraut Autoritäten. Doch weiß er es zu schätzen, wenn man ihm den Weg weist.
„Ich bin Johannes Ponader, und ich bin Basispirat“
So begann alles wie erhofft. Alles wie geplant. Auch die Wahl eines neuen Politischen Geschäftsführers verlief fast reibungslos. Mit Katharina Nocun setzte sich am Freitag die Favoritin der Parteispitze ohne Schwierigkeiten durch. Fast 82 Prozent der Stimmen erhielt sie. Lange hatte man sie gebeten, für das Amt anzutreten. Erst wenige Tage vor dem Parteitag gab sie ihre Kandidatur bekannt. Ihr aussichtsreichster Konkurrent Andi Popp zog - „nach vielen Gesprächen“ - seine Bewerbung zu ihren Gunsten zurück. Er wurde als Beisitzer in den Vorstand der Partei gewählt. Für beide gab es viel Applaus. Pfiffe und Buhrufe hingegen gab es für einen anderen Kandidaten. Der hatte bei seiner Bewerbungsrede etwas zu gestehen: Er sei Mitglied der „Alternative für Deutschland“, sagte er. Er erhielt 29 Stimmen. Die Aufregung legte sich schnell.

Ponader allerdings - der für viele Piraten untrennbar mit dem Absturz der Partei in den letzten Monaten verbunden ist - verzichtete bei seiner Rücktrittsrede nicht auf giftige Spitzen. Er entschuldigte sich bei den Mitgliedern zwar für nicht erfüllte Erwartungen in ihn. Doch warnte er dann vor einer voranschreitenden Personalisierung und Professionalisierung in der Partei. Die Piraten seien kein Unternehmen. Sprecher brauche die Partei auch nicht. Den Blick hatte Ponader dabei wohl auch schon auf das Spitzenteam für den Wahlkampf gerichtet, das es zwar offiziell noch gar nicht gibt, das aber bald vorgestellt werden soll. Ein Handvoll Piraten vielleicht, bestimmt von der Parteiführung. Denn zumindest der Vorsitzende Bernd Schlömer vertritt schon seit längerem die Auffassung, dass sich ein erfolgreicher Wahlkampf nur mit erkennbaren Köpfen bestreiten lässt. Sympathieträger der Partei sollen sie sein. Ponader wird kaum dazu gehören. Er schloss seine Rede mit der Anmerkung, wer bei den Piraten ein Amt niederlege, trete nicht zurück, er trete nach vorne. „Ich bin Johannes Ponader, und ich bin Basispirat.“ Es klang wie eine Drohung.
Bis zur Debatte über die SMV verlief alles fast reibunglos
Als nach der ersten langen Nacht vom Freitag die Piraten sich am Samstag wieder unter den schweren Holzbalken der Neumarkter Jurahalle einfanden, da ging es auch mit dem Wahlprogramm rasant voran. Nach kaum einer Stunde wurde fast der komplette „Massive Wahlprogrammantrag“ angenommen. Nur die Themenbereiche „Europa“ und „Wirtschaft und Finanzen“ fanden keine Mehrheit.
Das hohe Tempo gefiel nicht jedem. Ein Pirat sagte mürrisch am Saalmikrofon, die Partei habe länger über die Tagesordnung geredet als über das Wahlkampfprogramm. „Herzlichen Glückwunsch zu dieser demokratischen Glanzleistung“, kommentierte er sarkastisch. Als in den Saal gefragt wird, wer eigentlich wisse, was in dem Antrag steht, meldet sich etwas mehr als die Hälfte der Piraten. In den folgenden Stunden ergänzten sie das Wahlprogramm dann immer weiter - von der Forderung, die Rechte von Fußballfans zu schützen bis hin zu Reformvorschlägen für das Urheberrecht. Man war zufrieden mit sich, lobte Effizienz und Intensität der Debatte. Und damit keine Zweifel an der tollen Stimmung aufkommen konnte, lief Schlömer im FC-St.-Pauli-Shirt schnell mal vor der Bühne herum und hielt eines der blauen „#ichbinmotiviert“-Schilder hoch, die überall in der Halle herumlagen. Er forderte die Piraten auf, es ihm nachzutun. Sie folgten seinem Beispiel.

Alles also lief fast reibungslos - bis es wieder Abend wurde in Neumarkt. Dann stand die Debatte über die Ständige Mitgliederversammlung (SMV) anstand. Die Sitzungsleitung musste immer öfter feststellen: „Es gibt einen GO-Antrag“. GO wie Geschäftsordnung. Der Tag ging, und mit ihm die Disziplin. So war es am Freitag, so war es auch am Samstag. Auf der LED-Lichterwand stand in roten Buchstaben die Aufforderung: „Bitte kein Tumult.“ Und gleich danach in Grün: „Bitte bleibt ruhig.“ Vergebens.

Und das Chaos war wieder perfekt
Die SMV spaltet die Partei. Befürworter des Online-Parteitags sind überzeugt, dass die Möglichkeit verbindlicher Entscheidungen im Internet ein entscheidender Schritt ist, um das Beteiligungsversprechen der Piraten zumindest für die Mitglieder schon mal zu erfüllen. Ein Alleinstellungsmerkmal im Wahlkampf. Die Gegner der SMV halten diese für undemokratisch. Eine anonyme Abstimmung im Internet sei vor Manipulation nicht sicher. Seit Jahren schon stehen sich die beiden Richtungen unversöhnlich gegenüber. Sämtliche Argumente sind ausgetauscht. Immer wieder scheiterten Kompromissvorschläge. Am Freitag fanden die Anträge für eine „Hardcore SMV“ keine Mehrheit, am Samstag wurde die Debatte über eine „SMV Light“ nach den unzähligen GO-Anträgen vertagt. Piraten fluchten vor der Halle im Bratwurstdampf.
Die Parteiführung bereitete in der Nacht eine neue Tagesordnung vor, sprach Reden ab, und schränkte die Möglichkeiten ein, Geschäftsordnungsanträge zu stellen. Am Sonntag gab es so immerhin wieder eine Diskussion über die SMV. Auch zu Abstimmungen kam es, deren Ergebnisse dann freilich angezweifelt wurden. GO-Anträge folgten und wieder neue Abstimmungen. Dann standen auch scheinbar schon abgelehnte Anträge wieder zur Disposition und das Chaos war perfekt. Schlömer gab sich in seiner Parteitagsrede alle Mühe, die Angriffslust der Piraten wieder auf den politischen Gegner zu lenken und lobte später die „positive Debattenkultur“ in seiner Partei. Doch der Konsensantrag zur SMV scheiterte schließlich an fehlenden 23 Stimmen.