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F.A.Z.-Leser helfen

Wolken und sich schneidende Linien

Von Martina Propson-Hauck
16.11.2021
, 10:53
Mit viel Geduld: Freihändig zeichnet Julius Bockelt Punkte und Linien, um Schwingungen und Töne auf Papier zu bringen. Bild: Albermann, Martin
Das künstlerische Werk von Julius Bockelt erhält viel Anerkennung. Das sieht er jedoch genauso pragmatisch, wie dass er trotzdem noch in Werkstätten für Behinderte arbeiten muss.

Am Abend vor dem Treffen ist Julius Bockelt gerade erst aus Paris zurückgekehrt. Dort hat er in der Galerie Christian Berst rund 50 seiner Arbeiten ausgestellt, in seiner ersten Einzelausstellung. Zwei Wochen vor dem Ende sind fast alle verkauft, für mehrere Tausend Euro das Stück. Werke von ihm sind durch die Schenkung eines Sammlers mittlerweile auch Teil der Sammlung des Centre Pompidou. Nicht viele Frankfurter Künstler können das vermutlich für sich reklamieren. In Gruppenausstellungen waren seine Bilder in London, Australien und Tokio zu sehen, mit einem Künstleraustausch war er in China.

Doch Ruhm und Erfolg steigen dem Fünfunddreißigjährigen nicht zu Kopf, das Geld fließt zum Teil wieder in die Arbeit des Ateliers Goldstein, in dem 14 Künstlerinnen und Künstler mit kognitiven Beeinträchtigungen arbeiten. „Meine Arbeit scheint den Leuten wichtig zu sein, sie haben Respekt vor mir“, kommentiert Bockelt, nur das ist ihm wichtig. Respekt, den er für seine andere Arbeit in einer Behinderten-Werkstätte nicht bekommt.

Einfach nur Künstler sein

Bei einer Musikperformance gemeinsam mit Sven Fritz, einem der Atelierleiter, hat er in der Pariser Galerie zum ersten Mal gesehen, wie viele Menschen sich seine Kunst wirklich angesehen haben und nur wegen ihm gekommen sind. Ein Dolmetscher hat übersetzt. Eine sehr eindrucksvolle Erfahrung, die man ihm gleich anmerkt: Er strahlt, wie man es nur kann, wenn man zutiefst zufrieden ist mit dem, was man tut und erreicht hat. „Ich gehe das jetzt aber ganz ruhig an und schaue, was als Nächstes kommt“, sagt er, „wenn es den Leuten nicht mehr gefällt, mach ich es aber trotzdem.“ Das Lächeln auf seinem Gesicht wird zum breiten Grinsen. Dass er in Paris auf den Eiffelturm gestiegen ist, gemeinsam mit Sophia Edschmid vom Atelierteam, die dafür erst ein wenig Höhenangst überwinden musste, ist für ihn genauso erwähnenswert wie der künstlerische Erfolg. Dort oben nämlich war er den Wolken deutlich näher.

Wolkig mit Aussicht: Künstler Julius Bockelt an seinem Arbeitsplatz Bild: Albermann, Martin

Er ist ein Wolkengucker und geht dieser Tätigkeit eigentlich immer nach, auch wenn er sich gerade intensiv mit jemandem unterhält, scannt er dabei ganz unauffällig den Himmel. Er schaut, ob da nicht vielleicht eine ganz außergewöhnliche Formation auftaucht, die er so noch nicht kennt. Mehr als 40.000 Wolkenbilder hat er archiviert, fing damit schon früh an mit einem einfachen Fotoapparat, einer Box, die er als Kind geschenkt bekam. Er versucht, sie bildlich einzufangen, kennt aber auch all ihre wissenschaftlichen Namen: „Cirrus, Altocumulus, Stratocumulus, Cumulus . . .“, setzt er an, bevor man abwinkend seine überlegene Kennerschaft eingesteht. Sein Fotoapparat ist mittlerweile deutlich besser geworden, seine Techniken, Wolken gestalterisch umzusetzen, auch.

Sein künstlerisches Thema ist die Vergänglichkeit, das Ephemere. So drücken das die Kunstvermittler und Experten aus, die mittlerweile über ihn reden, über ihn schreiben. „Ich mach einfach mein Ding und habe sehr viel Geduld“, sagt Julius Bockelt wesentlich pragmatischer über sich selbst. Er empfindet sich nicht als Mensch mit geistiger Behinderung, auch wenn ihm das die Gesellschaft per Stempel attestiert. Sein „Ding“, das sind Kunstwerke, in denen er sich mit Phänomenen der Natur beschäftigt. Das können auch Seifenblasen sein, die er konserviert und mit Schülern auf Papier bringt, das sind vor allem aber Himmelsphänomene und Tonschwingungen. Pragmatisch geht er auch damit um, dass er an drei Tagen die Woche in den Werkstätten für Behinderte arbeiten muss und nicht nur Künstler sein darf.

„Wenn ich das geschafft habe, dann schaffe ich alles“

Über seinem Arbeitsplatz im Atelier Goldstein hängen einige seiner Bilder: Wolken und andere Werke mit geraden, sich schneidenden Linien, die sich wie Schraffuren überlagern und die er in oft monatelanger Arbeit freihändig so gerade zeichnet, als hätte er dafür Lineale und Geodreiecke benutzt, um die Winkel zu berechnen. Hat er aber nicht. Das nötigt jedem, der die Bilder sieht, große Bewunderung ab. Es sind diese Linien, mit denen er versucht, Schwingungen von Tönen auf das Papier zu bringen, so erklärt er das. Ein Notat abseits jeder Notenschrift.

Im Alter von 18 Jahren kam Bockelt erstmals ins Atelier Goldstein. Dort hat er seine Vielseitigkeit als Künstler entwickeln können. Für die im Jahr 1219 gebaute Marienkirche in Aulhausen, im ehemaligen Zisterzienserkloster Marienhausen, etwa hat er die Jesusfigur gefertigt, herausgehauen und mit Messern und Spateln geformt aus einer 200 Jahre alten Eiche. Künstler mit Beeinträchtigung haben dort erstmals die Ausstattung eines Kirchenraums gestalten können. Er war dabei, als die Eiche gefällt wurde, stand bei minus zehn Grad auf dem Gerüst in der Kirche, erkrankte zwischendurch ernsthaft. Aber es gelang ihm trotzdem, die Skulptur in zwei Jahren fertig zu bekommen.

„Wenn ich das geschafft habe, dann schaffe ich alles“, ist seither sein Lebensmotto. Im Atelier Goldstein hat er den richtigen Raum gefunden. „Ich fühle mich einfach wohl, wenn ich hierherkomme und sicher.“ Sein Atelier unterm Dach teilt er mit einem weiteren Künstler, es ist ziemlich eng, kaum Platz für all die fantastische Kunst. Wie nötig der Anbau an das Atelier in der Remise einer alten Fabrik in Frankfurt-Sachsenhausen ist, für den die F.A.Z.-Leser in diesem Jahr spenden, wird hier ganz augenfällig. Bockelt nennt es jedoch „bequem und gemütlich“ und streckt sich auf seinem Stuhl vor dem Arbeitstisch, auf dem sich alles türmt.

Im Atelier Goldstein nimmt man ihn ernst

Im Atelier Goldstein hat er Menschen getroffen, die seine Arbeiten ernst genommen haben. Die es nicht als „Spinnerei eines Irren“ abtaten, dass er als Kind und Jugendlicher gern mit der Stromzufuhr seines Keyboards und seines Kinder-Lerncomputers experimentierte und damit auf den elektronischen Anzeigen ulkige Bilder erzeugte, die ihn total faszinierten. Der diese dann irgendwann auch künstlerisch umsetzte. Der von Baustellen Material heimschleppte und bearbeitete, weil ihm das daheim niemand gab. Heute kann er über das Atelier Goldstein im Künstlerbedarf bestellen, was immer er braucht. Aus dem Kind, das so anders war als die anderen, ist ein erwachsener Künstler geworden und ein Lehrer, der in der Schule unterrichten kann.

Ein Keyboard bekam er in Jugendzeiten vom Bruder überlassen, als der das Instrument nicht mehr brauchte. Durch nicht zur Nachahmung geeignete Manipulationen an Stecker und Stromzufuhr entlockte er ihm nie zuvor gehörte Töne. Auf dem Display visualisierten sich diese als ulkige Muster. Das war seine Inspiration für die Linienbilder. Eigentlich kam er also von der Musik zur bildenden Kunst. Zusammen mit Sven Fritz, einem der Leiter des Ateliers Goldstein, macht er bei Ausstellungseröffnungen und anderen Gelegenheiten aber noch immer sehr gern Musik.

Spenden für das Projekt „F.A.Z.-Leser helfen“

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und die Frankfurter Allgemeine/Rhein-Main-Zeitung bitten um Spenden für das Projekt „Sternenzelt“ der Evangelischen Familienbildung Main-Taunus, das Kindern, die ein Elternteil verloren haben, durch die Trauerzeit begleitet und stärkt, sowie für das Atelier Goldstein in Frankfurt, das einen Anbau errichten will, damit dort noch mehr Künstler mit kognitiven Beeinträchtigungen arbeiten und zugleich Veranstaltungen stattfinden können.

Spenden für das Projekt „F.A.Z.- Leser helfen“ bitte auf die Konten:

Bei der Frankfurter Volksbank
IBAN: DE94 5019 0000 0000 1157 11

Bei der Frankfurter Sparkasse
IBAN: DE43 5005 0201 0000 9780 00

Spenden können steuerlich abgesetzt werden. Weitere Informationen zur Spendenaktion im Internet unter www.faz-leser-helfen.de.

Quelle: F.A.Z.
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