Was ist mit der deutschen Mode los?

Eine solche Modenschau vergisst man nicht. 17. Januar 2018, Großer Speisesaal im Berliner Kronprinzenpalais. In der ersten Reihe die Schauspielerinnen Katharina Schüttler, Julia Malik, Anna Maria Mühe, Nadine Warmuth. Auf dem Laufsteg – also dem Parkett – Models in so einfacher wie stilvoller Mode, zurückgenommen und trotzdem begehrenswert, überweite Mäntel, fließende Seidenoberteile, weite Hosen, tolle Farben. Als sie ihre Runde gedreht hatten, setzten sich die Models in wechselnden Besetzungen an einem langen Tisch zusammen wie Jüngerinnen zu einem letzten Abendmahl.
Das Tableau vivant war symbolisch, nicht nur, weil auch der Saal auf Leonardo da Vincis Gemälde drei Fenster im Hintergrund hat. Aber erst drei Monate später entblätterten sich alle Schichten dieser Geschichte. Da kündigten Johanna Perret und Tutia Schaad an, dass sie ihre Modemarke Perret Schaad nach neun Jahren einstellen. Zwei Protagonistinnen der Berliner Modewoche hörten sang- und klanglos auf. Ihr Ende hatten sie wunderbar eingekleidet. Die Macht der Mode: Man spürte in dem Moment die Bedeutung – obwohl nur die beiden Modemacherinnen ahnten, dass das letzte Mahl auch das letzte Mal war.
Große Designer wurden ganz klein
Christlich gesehen, folgt auf den Tod die Auferstehung. Die deutsche Mode kann nur beten, dass es so kommt. Denn das „Berliner Modewunder“, von dem wir in der F.A.Z. in bestem Glauben schrieben, dauerte nur ein Jahrzehnt: vom Beginn der Modewoche im Jahr 2007 mit all den Messen und Schauen bis zu diesem Tag im Januar 2018. Es war stilistisch das beste Jahrzehnt der deutschen Mode seit den zwanziger Jahren. Aber das große Wunder wurde in kleiner Münze ausgezahlt. Während in den vier großen Modestädten der Welt kleine Designer groß wurden, wurden in Berlin große Designer ganz klein: Achtland, Macqua, Sisi Wasabi, von Wedel & Tiedeken, Firma, Pulver, Issever Bahri, Augustin Teboul – sie alle gingen vor der Zeit den Weg alles Irdischen.
Es war wie in der wahren Kunst, also nicht nur der angewandten: Man sah dabei zu, wie sich all diese jungen Designer selbst verzehrten. Ästhetisch ist das ein Gewinn, ökonomisch bringt es meist nichts. Wolfgang Joop, der in den Achtzigern „genau den richtigen Moment erwischte, als es noch keine Fast Fashion gab“, und sich die Berliner Modewoche in der vergangenen Woche ersparte, diagnostiziert das Problem aus dem Urlaub auf Ibiza: „Deutsche Unternehmer trauen Kreativen nicht – wenn die nicht gerade ein Auto entwerfen, und selbst dann reden sie noch rein.“

In Frankreich ist das ganz anders. Der Luxusunternehmer Bernard Arnault ist zu einem der reichsten Menschen der Welt geworden, weil er die Kreativen einband und vermarktete. Das war ein extremes Wagnis und erforderte wirklich Mut: Marc Jacobs, der Louis Vuitton wieder ins Gespräch brachte, war in den Neunzigern heroinabhängig, und John Galliano, der Dior belebte, faselte im Rausch, dass er Hitler liebe; das ging dann doch zu weit, und er musste gehen.
In Deutschland würde es sich jedenfalls kein mittelständischer Modeunternehmer trauen, mit Designern an die Grenzen der Kreativität zu gehen. Die großen Unternehmen sitzen in der deutschen Provinz, die großen Designer in ihrem Berliner Studio, und sie wollen einfach nicht zusammenkommen.
Während also die französischen Konzerne LVMH und Kering auch für dieses Jahr Rekordumsätze melden und sich selbst die italienischen Marken noch gut schlagen, verzwergt sich Deutschland. Der Treppenwitz der Modegeschichte lautet denn auch so: In den achtziger Jahren war die Münchner Modemarke Escada größer als Louis Vuitton – im Jahr 2020 machte Vuitton einen Umsatz von 16 Milliarden Euro, und Escada beantragte die Insolvenz.
Warum eigentlich? Frauen in Deutschland halten sich lieber an Bewährtes – und greifen lieber zu Armani als zu Lala Berlin. Sie müssen sich allerdings Wolfgang Joops ätzende Diagnose vorhalten lassen: „Die Deutschen, die sich dem Mainstream anpassen wollen, haben den Zug verpasst.“ Das Gegenteil war sein Erfolgsrezept in den Achtzigern: „Vom Lifestyle her hatten wir die alte deutsche Art abgelegt.“
Zweckmäßigkeit siegt
Schon aus historischen Gründen ist für die Deutschen die Mode ewiges Neuland. Dem Protestantismus waren Äußerlichkeiten verdächtig. Der Nationalsozialismus vertrieb und ermordete wichtige Textilproduzenten, die sich in Berlin um den Hausvogteiplatz angesiedelt hatten. Die Vorbehalte gegen die französische Lebensart wirkten bis in die Nachkriegszeit fort. Und dann kam auch schon die Achtundsechziger-Bewegung, die egalitär und konsumkritisch dachte: Mit Jeans, Parka und Turnschuhen dominierte das Praktische. Sei es preußisches Denken, rebellisches Gehabe oder das soziale Gewissen der Bonner Republik: Luxus war immer nur dann gestattet, wenn er schön bescheiden daherkam. Zweckmäßigkeit siegt immer über Fantasie, Gebrauchswert über Schönheit, Dauerhaftigkeit über Trend.

Noch ein politischer Faktor kam hinzu. Keine Stadt in Deutschland bündelt wirtschaftliche, politische und kulturelle Strahlkraft. München, Düsseldorf, Köln, Frankfurt, Hamburg, Berlin – das sind alles nur kleine Modezentren. Selbst die Igedo in Düsseldorf, jahrzehntelang die größte Modemesse der Welt, fand international wenig Widerhall. Dass die jungen Messen in den nuller Jahren von dem Rhein an die Spree wanderten, half Berlin nicht dauerhaft. So ziehen sie nun nach Frankfurt. Also: Auch der Föderalismus ist schuld, dass Berlin nicht Paris ist.
Muss ja nichts heißen. „Es ist die Zeit für kleinere Einheiten“, sagt Jörg Ehrlich, der mit Otto Drögsler die Marke Odeeh aufgebaut hat. „Die Großunternehmen sind träge geworden, die kleineren sind wendiger.“ Und Joop kauft gerne bei „Baron Ibiza“ ein, einer kleinen Boutique mit jungen Marken: „Vieles raw, gebatikt, mit offenen Kanten.“ In Deutschland fehlt es ihm am Mut zum Exzentrischen.

Betriebswirtschaftlich seien die Deutschen top, sagt Jörg Ehrlich, aber darunter leide zu oft das Produkt. Vor kurzem war er bei einem italienischen Weber. Er erzählte, dass die Deutschen fragen: „Was kostet der Stoff?“ Die Italiener fragen: „Wie bekomme ich ihn trotzdem?“ Für Ehrlich bedeutet das: „Wir haben ein Luxusproblem.“ Italiener und Franzosen gehen forscher an das Thema. Aber die Hoffnung gibt er nicht auf, auch wegen der vielen Talente aus Berlin.
So ähnlich sieht das Johanna Perret. „Wir wollten aufhören, als es am schönsten war“, sagt sie heute. Beide machen aber weiter, Perret als Beraterin für andere Marken. Noch seien in anderen Ländern die Fördersysteme besser, Marken und Kaufhäuser zeigten dort mehr Interesse an der jungen Szene. Aber nun gibt es den Fashion Council Germany, und seitdem Frankfurt im Rennen ist, bemüht sich auch Berlin stärker. Die Zukunft sieht nicht mehr so aus wie gestern. Aber immerhin gibt es sie noch.