Spieler sind wir doch alle
JOCHEN REINECKE9. Dezember 2020 · Trotz Smartphones und Streaming sind Brettspiele beliebter, als sie es je waren. Den Herstellern gehen die Ideen nicht aus, und Spieleforscher ermitteln, was ein Spiel wirklich spannend macht.
In der Krise ist es ein bisschen wie im Spiel, es gibt klare Gewinner und Verlierer. Letztere sind offensichtlich: Die Restaurants bleiben geschlossen, Bars sowieso, und ins Kino gehen kann man auch nicht mehr. Neuer Beliebtheit erfreuen sich dafür Spieleabende mit der Familie. Während Tourismus und Gastronomie brachliegen, hat die Pandemie den Spieleverlagen ein sattes Umsatzplus beschert: Seit dem ersten Lockdown im Frühjahr hat der Verkauf von Brett- und Kartenspielen für Erwachsene gegenüber dem Vorjahr um dreißig Prozent zugelegt, wie der Verein Spieleverlage, der größte Branchenverband im Bereich der Gesellschaftsspiele, Mitte Oktober bekanntgab. Und auch eines der ältesten Brettspiele der Welt kommt gerade zu neuen Ehren: Die opulente Netflix-Serie „The Queen’s Gambit“ handelt vom Werdegang eines weiblichen Schachwunderkinds und wird derzeit in den Feuilletons aller Welt gelobt, gar als beste Serie des Jahres gehandelt und verzeichnet enorme Zuschauerzahlen. Nicht wenige haben nach dem Serienmarathon selbst Lust auf eine Partie; in den ersten Wochen, nachdem die Show erschien, waren die Schachspiele in den Vereinigten Staaten zunehmend vergriffen, wie die Washington Post berichtete, Verkaufszahlen stiegen Ende Oktober im Vergleich zum Vorjahr um tausend Prozent. Was reizt den Menschen trotz moderner Zerstreuungen so am guten, alten Brettspiel?
„Aus evolutionsbiologischer Sicht ist Spielen schlicht überlebenswichtig“, sagt Rainer Buland. Der österreichische Kulturhistoriker und Spieltheoretiker ist Leiter des Instituts für Spielforschung und Playing Arts der Universität Mozarteum Salzburg. Würden kleine Kinder etwa nur durch organisiertes Lernen wie in der Schule Fähigkeiten erwerben, wäre die Menschheit wohl längst ausgestorben, meint er. „Das nicht ernstgemeinte Tun, das Ausprobieren, das Spielen, das Experimentieren: das sind die effizientesten und nachhaltigsten Wege des Lernens.“ Natürlich gibt es viele Gründe, warum wir gerne spielen, wie Jens Junge vom Berliner Institut für Ludologie, also für Spielwissenschaft, weiß: „Spielen ermöglicht es uns, aus der Realität heraus in eine Art Zauberkreis einzutreten. Wir eröffnen uns einen neuen, geschützten Erfahrungsraum und können Verhaltensvariationen trainieren, die uns das reale Leben nicht liefert.“ Und selbstverständlich ginge es auch darum, sich mit anderen zu messen. „Und zu gewinnen.“
Darum ging es wohl schon seit Anbeginn der Menschheit. Zu den ältesten archäologisch belegten Brettspielen gehören das ägyptische Senet, mit dem sich schon um 3000 vor Christus die Untertanen der ersten Pharaonen vergnügten, sowie in Mesopotamien das „Königliche Spiel von Ur“ aus der Zeit um 2600 vor Christus. Weitere altbekannte Spiele sind Schach, Backgammon, Dame, Go oder auch Pachisi, der Vorläufer des „Mensch ärgere Dich nicht“. Allen diesen Spielen gemeinsam sind nicht nur die stabilen Spielbretter und die häufig abstrakten und universellen Figuren – sie enden auch meist mit einem klaren Gewinner und mindestens einem Verlierer.
Heute ist die Vielfalt an unterschiedlichen Spielprinzipien so überbordend, dass Ludologen eine eigene Taxonomie entwickelt haben: vom Legespiel über das Denkspiel, Zugspiel und Aktionsspiel bis hin zum Gedächtnisspiel, um nur einige Varianten zu nennen. Die Ludologie erforscht aber nicht nur diese „Grundrechenarten“ des Spiels, sondern auch eine „Grammatik“: Das sind die unterschiedlichen Elemente, die den Lauf eines Spiels beeinflussen können – vom Würfel, der eine Zufalls- oder Glücksebene beisteuert, über die Ereigniskarte, die den Spielverlauf abrupt verändert, bis hin zur Sanduhr, die uns dazu zwingt, einen Spielzug innerhalb einer bestimmten Zeit auszuführen. Diese Forschung gibt auch Auskunft über die Kulturgeschichte und kann dabei helfen, neue, motivierende und kommerziell erfolgreiche Spiele zu ersinnen. Zu diesem Zweck werden aktuell beim Projekt Empamos, das für „Empirische Analyse motivierender Spielelemente“ steht, eine gemeinsame Forschungsinitiative der Technischen Hochschule Nürnberg und des Deutschen Spielearchivs der Stadt Nürnberg, die Regelwerke von rund 30 000 Brett- und Gesellschaftsspiele digitalisiert und mit Hilfe einer Künstlichen Intelligenz analysiert: Schon jetzt wurden mehr als hundert verschiedene „Spielatome“, wie Würfel oder Ereigniskarten, identifiziert, aus denen sich immer wieder neue Spielkonzepte erschaffen lassen.
Dabei zeigen sich über die Jahrhunderte allerlei erstaunliche Entwicklungen, in die Breite und in die Tiefe: Althergebrachte Spiele werden auf einem starren, vorgegebenen Brett und mit rigiden Regeln und Gepflogenheiten gespielt, ein jeder kennt Weisheiten wie
beim Schach oder die Rollenverteilung beim Skat: „Geben, Hören, Sagen“. Doch im Laufe der Zeit haben sich viele neue Spielmechaniken entwickelt, bei denen nicht nur der Spielverlauf variabel gestaltet werden kann, sondern auch das Spielfeld selbst: Beispiele sind moderne Legespielklassiker wie „Das verrückte Labyrinth“, „Die Siedler von Catan“ oder „Carcassonne“. Hier entsteht jedes Mal eine völlig neue Spielfläche, denn die Spielkarten mit Landschaftselementen werden stets neu angeordnet – entweder zufällig zu Beginn des Spiels, oder sie werden vom Spieler plaziert. Doch auch Spiele, die bewusst mit klassischen Mustern brechen, können sich zum Publikumserfolg entwickeln: Beim Kartenspiel „The Mind“ etwa müssen Spieler gemeinsam eine Patience legen, dürfen dabei aber nicht mit Worten kommunizieren, sondern nur mit Blicken. Die Jury des „Spiels des Jahres“ kürte das Spiel im Jahr 2018 und war begeistert: „Verblüffend! Faszinierend! Genial!“ Emotionale Momente würden die zunehmende Verschmelzung von Geist und Materie bereichern. „Eine erstaunliche Erfahrung, die jeder Spieler mal gemacht haben sollte“, hieß es damals im Nominierungsschreiben.
Vielfältiger geworden ist auch die Rollenverteilung: Während das Ziel in allen historischen Spielen stets war, als Sieger hervorzugehen und dabei einen oder mehrere Gegner zu schlagen, setzen sich seit den siebziger Jahren auch kooperative Spielmodelle durch. Eines der ersten dieser besonderen Gruppenspiele in Deutschland war das für Kinder entwickelte Spiel „Wundergarten“: Die Teilnehmer versuchen gemeinsam, ihre Beete zu bepflanzen, bevor ein Gewitter herannaht. Oder das kooperative Detektiv-Brettspiel „Wer war’s?“, das im Jahr
2008 mit dem Deutschen Kinderspiele Preis ausgezeichnet wurde. Hier müssen alle Spieler als Team dem Dieb eines Zauberrings auf die Spur kommen. Seit einigen Jahren haben auch Brettspieladaptionen der Exit-Room- und Escape-Games mehr und mehr Anhänger. Diese Spielidee entstand vor rund dreizehn Jahren in Japan: Eine Gruppe von Personen wird gemeinsam in einem Raum eingesperrt und muss ihr Gefängnis innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums verlassen. Im Raum sind Gegenstände und Hinweise versteckt, welche die Spieler finden und richtig einsetzen müssen. Was kooperative Spiele auszeichnet, ist, dass keine menschlichen Gegner bezwungen werden, sondern die Spieler gemeinsam das Spiel bezwingen.
Spiele müssen auch nicht zwingend immer gleich verlaufen: Der amerikanische Spieleautor Rob Daviau gilt als Pate der sogenannten „Legacy Games“, hierzulande auch als Kampagnenspiele bekannt. In einem Interview mit dem Online-Magazin Slate sagte Daviau im Jahr 2016: „Manche Menschen denken, ein Brettspiel sollte unendlich oft spielbar sein.“ Seine Spiele seien jedoch anders. „Sie sind Eintrittskarten zu einem Erlebnis, vergleichbar mit einem Konzert.“ Das Besondere bei Legacy Games ist, dass sie aus mehreren Runden bestehen und sich die Regeln und Spielelemente während jeder Runde ändern, weil die Spieler etwas dazulernen oder Interaktionen pf legen, die ihr Verhältnis zueinander dauerhaft verändern. Dabei wird das Spiel auch im physischen Sinne modifiziert, beispielsweise werden Aufkleber oder Beschriftungen angebracht oder versiegelte Umschläge mit Hinweisen geöffnet – und manchmal werden die Spielmaterialien sogar zerstört. So wird das Spiel mit jeder Runde komplexer und individueller. Manche Legacy-Games sind irgendwann buchstäblich zu Ende gespielt, andere können mit separat erhältlichen Nachfüllpackungen wieder in ihren Urzustand versetzt werden.
Nicht zuletzt bilden Spiele auch den Zeitgeist und sogar zukünftige Entwicklungen ab, sagt Jens Junge. Ein Beispiel sei das Volksspiel Skat, das die postfeudale Gesellschaft vorweggenommen habe. „Es wurde zwischen 1810 und 1817 entwickelt und vertritt ein nachgerade subversives Narrativ: Der König – einst der allmächtige Herrscher – hat künftig nicht mehr viel zu sagen, stattdessen ist der Bauer Trumpf“, sagt er. „Und auch die Damen sitzen künftig mit am Tisch.“ Und Rainer Buland verweist darauf, wie aktuell das bereits 2008 erschienene kooperative Brettspiel „Pandemie“ derzeit ist: „Hier wurde Corona geradezu visionär vorweggenommen, denn die Spieler müssen sich mit realitätsnahen Fragen auseinandersetzen: Wie gefährlich ist exponentielle Ansteckung? Wie schwierig ist es, ein Serum zu entwickeln? Warum bricht die medizinische Versorgung zusammen, wenn es zu einem Superausbruch kommt?“ So sollte also niemand sagen, Spielen sei nur Realitätsflucht.
Ganz reell sind auch die Umsätze: Im Jahr 2019 erzielten die Spielverlage alleine mit Gesellschaftsspielen rund 594 Millionen Euro Umsatz, ein Plus von acht Prozent gegenüber dem Vorjahr. Für dieses Jahr gilt ein neuer Rekordumsatz schon jetzt als sicher. Und es könnte so weitergehen, denn an neuen Ideen mangelt es der Zunft nicht. Branchenexperten schätzen, dass bei großen Buchverlagen bis zu 6000 Manuskripte auf Initiative der Autoren im Jahr eingehen, und genauso werden auch die Spieleverlage mit Konzepten und Ideen überschwemmt. Katrin Seemann vom Spieleverlag Ravensburger sagt, dass alleine bei ihnen etwa tausend Spielideen jährlich eingereicht würden. Wie behält man da den Überblick? „Große Spieleverlage haben häufig eine Agentur zwischengeschaltet“, erklärt sie. „Hier sichten professionelle Spieleentwickler und Marketingspezialisten vorab die Einreichungen.“ Sie träfen dann eine Zwischenauswahl und stellten diese dann dem Verlag vor, ähnlich wie es auch Literaturagenten machen.
Und wie werden wir in Zukunft spielen? Die Digitalisierung macht anscheinend auch vor Brettspielen nicht halt. „Wir sehen immer häufiger das Verschmelzen analoger, haptischer Spielelemente mit der digitalen Welt“, sagt Seemann. Während Klassiker wie „Trivial Pursuit“ irgendwann zu Ende gespielt sind, weil jeder die Fragen auswendig kennt, können Hybridspiele immer wieder neu für Spannung sorgen, indem aktuelle Inhalte aus dem Internet geladen werden. Beim Ratespiel „Know“ beispielsweise werden Fragekarten und Spielfiguren mit dem Google Assistant verknüpft. Dieser kann nicht nur die Spielregeln vorlesen, er liefert auch stetigen Nachschub an aktuellen Inhalten und kann bei zeit- oder ortsbezogenen Fragen helfen: Denn die Schätzfrage „Wie weit ist es von hier aus bis zum Pariser Eiffelturm?“ wird natürlich in Aachen anders beantwortet als in Görlitz. Apps fürs Smartphone können auch die Funktion des Spielleiters übernehmen und für zusätzliches atmosphärisches Kolorit sorgen, wie beim Spiel „Die Werwölfe von Düsterwald“. Hier werden den Spielern Rollen zugeteilt, etwa sind sie ein unschuldiger Dorfbewohner, ein Werwolf oder einer der besonderen Charaktere wie die Hexe. Die Urfassung des Spiels wurde 2001 in Frankreich als Kartenspiel vorgestellt. Heute gibt es nicht nur zahlreiche Erweiterungssets, sondern auch eine App, welche die Geschichte erzählt, Rollen zuteilt und Ereignisse auslöst.
Stehen diese digitalen Helferlein nicht im Widerspruch zu dem Wunsch, sich mit dem „guten, alten Brettspiel“ ganz bewusst aus der Welt des Digitalen zurückzuziehen? Das kommt darauf an, sagt der Ludologe Jens Junge. „Wenn das Digitale eine sinnvolle Ergänzung zum Analogen ist, wenn Spieler auf diese Weise mehr Ereignisse und Wahlmöglichkeiten bekommen oder aktuellen Content für ein narrativorientiertes Spiel, dann werden solche Apps und Technologien akzeptiert.“ Und natürlich müsse es zur Situation passen. Einen dritten Skatspieler beispielsweise könne eine App kaum ersetzen, denn beim Skat zählt auch die menschliche Interaktion, das Witzeln und das rustikale Karten-auf-den-Tisch-Werfen. Der Spieleforscher Rainer Buland weist allerdings darauf hin, dass es sich hier auch um eine Generationenfrage handle: „Für junge Menschen gibt es keinen Widerspruch zwischen analog und digital. Sie fliehen nicht von der einen in die andere Welt. Beide Realitäten überschneiden sich – und man macht einfach das, was momentan spannender ist.“ Ob jung oder alt, wer noch auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken ist – mit einem Gesellschaftsspiel macht man auch in Zukunft nichts falsch. Nur wo in diesem Jahr das Brettspiel „Pandemie“ unterm Christbaum liegt, dürfte sich die Begeisterung in Grenzen halten.
Ein Lama als höchste Karte oder Expeditionen in verwunschenen Städten: Reiner Knizia hat sich schon hunderte Spiele ausgedacht. Wie macht man so was?
Herr Knizia, wie wird man eigentlich ein Spieleentwickler?
Ich habe schon als kleines Kind gerne gespielt. Doch da ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin, wo es keinen eigenen Spielwarenladen gab, habe ich sehr früh begonnen, meine eigenen Spiele zu kreieren. Das ging damals noch sehr chaotisch zu: Ich habe mir Rollenspiele mit Monopoly-Spielgeld ausgedacht, Autos durch Röhren geschossen und meine Familie mit meinen selbst entworfenen Lotterien traktiert. Nach dem Abitur habe ich in Deutschland und den Vereinigten Staaten Mathematik studiert und darin auch promoviert, danach in der Softwareentwicklung, im Bankwesen und in der Baufinanzierung gearbeitet. Nebenher habe ich weiterhin Spiele entwickelt, langsam auch mit zunehmendem Erfolg – und an meinem vierzigsten Geburtstag beschlossen, mich ganz der Spieleentwicklung zu verschreiben.
Wenn Sie ein Spiel entwickeln, wie gehen Sie dabei vor?
Dafür gibt es kein Werkstatthandbuch und keine Checkliste. Es geht vor allem darum, innovativ zu denken und ausgetretene Pfade zu verlassen – vor allem die eigenen! Wenn eine Idee einmal funktioniert hat, sollte man sie nicht mit einem neuen, ähnlichen Spiel breittreten. Spieleentwicklung ist ein langer und durchaus auch fordernder Prozess, der aus ganz unterschiedlichen Phasen besteht. Am Anfang steht fast immer
ein Thema, das mich begeistert, beschäftigt oder inspiriert. Ich sitze gerne mit geschlossenen Augen da und versuche, zu dem Thema Emotionen zu entwickeln oder es im Wortsinne durchzuspielen. Das ist ein recht assoziativer Vorgang – und ergebnisoffen. Wenn sich dabei etwas regt und ich das Gefühl habe, aus der Idee könnte etwas werden, lege ich in meinem Arbeitszimmer eine kleine Schublade an, denn von der ersten Idee bis zum Prototypen muss ich eine Vielzahl von Schritten gehen, da wechseln sich kreative Prozesse und analytische Fleißarbeit miteinander ab. Ich kann beispielsweise nicht immer vorab sagen, ob ein bestimmtes Spiel nun mit Würfeln oder Karten gespielt werden wird. So, wie Sie ein Kind auch nicht zwingen können, Ingenieur oder Lehrer zu werden. Ich muss aber auch beizeiten daran denken, ob eine Spielidee auch international funktioniert, wie die Spielmaterialien aussehen könnten und was es sonst noch so für Zutaten und „Gewürze“ gibt. Es geht also in jeder Hinsicht darum, über den Tellerrand zu denken. Das kann man natürlich nicht zwanzig Stunden am Stück. Durch die Schubladen habe ich die Möglichkeit, den Entwicklungsprozess jederzeit zu unterbrechen und später wieder aufzunehmen
Und wie viele Schubladen findet man in Ihrem Arbeitszimmer derzeit?
Vor der Corona-Pandemie waren es fünfzig, nach dem ersten Lockdown habe ich dreißig nachgekauft. Es mangelt mir eigentlich nie an Ideen, mindestens genauso wichtig ist es, rechtzeitig zu erkennen, wenn eine davon in eine Sackgasse mündet – und dann auch Tabula Rasa zu machen und ein nicht funktionierendes Konzept zu begraben.
Woran erkennen Sie, welche Ideen taugen und welche nicht?
Oft merke ich selbst rechtzeitig, wenn eine Idee nicht tragfähig ist. Aber natürlich diskutiere ich auch intensiv mit meinem Team und meinen Spielgruppen – und wir probieren so viel wie möglich mithilfe von Prototypen aus. Denn es ist etwas anderes, ob Sie eine Spielidee im Kopf haben oder sie mit Würfeln, Figuren, Spielbrett oder Karten zum Leben erwecken. Dieser Realitäts-Check ist ungemein wichtig. Mein Leitsatz ist: Wir verpacken Unterhaltung in Schachteln. Wenn der Käufer das Spiel auspackt, erwartet er gute Unterhaltung. Das kann nur funktionieren, wenn wir zuvor auf Herz und Nieren testen. Da geht es dann auch schon einmal hart und unbarmherzig zur Sache, Ideen werden umgeworfen, Parameter verändert – schon mehr als einmal ist aus einem Brettspiel letztlich ein Kartenspiel geworden – und umgekehrt.
In den vergangenen fünfzig Jahren haben sich die Spiele verändert, nicht wahr? Sind sie schneller, langsamer, vielfältiger oder bunter geworden?
Von allem etwas. Ich würde eher sagen: Die Bandbreite ist ganz enorm gestiegen. Wir haben schnelle, kurze Kartenspiele für eine Person, die im Grunde die neuzeitliche Variante der Patience sind, wir haben aber auch hochkomplexe Rollenspiele mit umfangreichen Skripten. Wir haben Wissensspiele, Geschicklichkeitsspiele, Hybridspiele mit App-Unterstützung – oder auch Exit-Room- und Kartendeckspiele. Und wir sehen heute mehr und mehr Spiele, bei denen nicht die Spielmechanik oder das Regelwerk im Mittelpunkt steht, sondern ein Thema. Spiele, die durch Romane, Filme, Bauwerke oder Fernsehsendungen inspiriert werden. Man kann guten Gewissens sagen: Spiele sind ein Abbild unserer Zeit. Sie sind aber auch ein Abbild unserer Gesellschaftsform. Deutschland ist ein Paradies für Spieler, Spiele sind hierzulande ein echtes Kulturgut. In den Vereinigten Staaten hingegen gibt es eine recht strikte Trennung zwischen Kinderspielen und „Hobby Games“ mit ziemlich komplexen Regelwerken. Den bunten, vielschichtigen Mittelbau an Spielen für die breite Masse gibt es dort nicht so wie bei uns.
In der Literaturbranche steht der Autor im Vordergrund, nicht der Verlag. Bei Spielen ist es oft umgekehrt. Bekommen Spieleautoren genügend Anerkennung?
Inzwischen ja. Das war aber nicht immer so – und dafür hat sich vor allem der 2004 verstorbene Spieleautor Alex Randolph eingesetzt. Als seine Spiele mehr und mehr erfolgreich wurden, setzte er durch, dass er als Autor auf der Verpackung genannt wurde und auch ein Mitspracherecht bei der grafischen Gestaltung hatte. Die Verlage merken ja auch, dass ein bekannter Autorenname auf dem Spielkarton durchaus bei der Vermarktung hilfreich sein kann. Letztlich profitieren alle davon.
Die Fragen stellte Jochen Reinecke
09.12.2020 | Quelle: F.A.S. |