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Musikpsychologie

Was macht mit mir nur dieses D-Dur?

Von Georg Rüschemeyer
27.12.2017
, 13:56
Claudio Abbado dirigiert Mahlers 9. Symphonie in D-Dur. Die festlichste aller Tonarten verweist zugleich auf die letzten Dinge, ist ihre Paralleltonart doch das h-moll, in dem zum Beispiel das „Erbarme dich“ in Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion steht. Bild: Bild Lucerne Festival
Wie wirken Klänge eigentlich – und warum tun sie das überhaupt? Das fragen sich Gelehrte seit Jahrtausenden. Die Musikpsychologie ist eine Grenzwissenschaft in mehrfacher Hinsicht.

Noch ein Räusperer, dann Stille. Der Dirigent hebt den Taktstock, und mit zwei Schlägen setzt er das Tempo. Orgel und Pauke legen los. Ihre ersten Tönen etablieren bereits die Tonart D-Dur samt dem beschwingten Dreierrhythmus: „Jauchzet! Frohlocket!“ Das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach ist im Advent aus Kirchen und Konzertsälen fast ebenso schwer wegzudenken wie George Michaels ebenfalls in D-Dur gehaltene Schnulze „Last Christmas“ aus Kaufhäusern und dem Dudelfunk.

So unterschiedlich beide Werke sind, bei ihrem jeweiligen Zielpublikum lösen sie ähnlich wonnige Weihnachtsgefühle aus und erfüllen damit ebenjene Aufgabe, die Musik wohl schon seit ihren Anfängen hat: nonverbalen Transport von Emotionen. „Keine Kunst wirkt auf den Menschen so unmittelbar, so tief, wie die Musik – eben weil keine uns das wahre Wesen der Welt so tief und unmittelbar erkennen lässt“, befand einst Arthur Schopenhauer. Und das heißt dann ja wohl: Sprachlich verfasstes Denken kann da nicht mithalten – auch und erst recht nicht, wenn es um die Musik selbst geht.

Big Data reicht da nicht

Musik als Mysterium, das dem Intellekt allenfalls indirekt zugänglich ist? Wie will man dem mit empirischer Wissenschaft beikommen? Und doch wird genau das seit der Antike immer wieder versucht. Jüngst waren es Informatiker der University of Indiana. Für eine Mitte November in der Zeitschrift „Royal Society Open Science“ erschienene Studie luden sie sich Begleitakkorde und Texte von 90.000 Popsongs von der Website „Ultimate Guitar“ herunter, auf der Nutzer Transkriptionen ihrer Lieblingsstücke einstellen. Mit Hilfe einer linguistischen Datenbank, die gut 10.000 gängigen englischen Wörtern eine emotionale Valenz mit Werten zwischen 0 (am traurigsten) und 9 (am glücklichsten) zuordnet, konnten sie dann Korrelationen von Akkordtypen und textlich artikulierten Emotionen berechnen. Die Ergebnisse dieser Fleißarbeit lassen sich schnell zusammenfassen: Wie man schon in der Schulmusik lernt, waren Moll-Akkorde eher mit traurigen, Dur-Akkorde mit heiter gestimmten Worten verbunden. Nicht ganz so schulbuchkonform war lediglich ein weiterer statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen frohen Versen und Septakkorden, in denen einfache Dreiklänge in Dur oder Moll noch um einen vierten Ton erweitert werden. Die Studie belegt vor allem die Grenzen des „Big Data“-Ansatzes, zumindest in der Musikforschung.

Doch wie lässt sich dann dem Geheimnis auf die Schliche kommen, was uns in der Musik berührt? Das Problem beginnt schon mit der Identifizierung von Wohlklang. Was man unter schönen Harmonien oder Melodien versteht, hängt stark von der Epoche und Kultur ab, in der man lebt. Aber gibt es nicht doch ein paar gemeinsame Nenner, auf die man sich zumindest innerhalb der Tradition des Abendlandes einigen könnte?

Am Anfang war Pythagoras

Dort beschäftigen sich Gelehrte schon lange mit dem Rätsel, warum Luftschwingungen überhaupt als etwas Schönes oder gar Bedeutungstragendes wahrgenommen werden. Angefangen hat es mit Pythagoras, der sich nicht nur für rechtwinklige Dreiecke, sondern auch für das Monochord interessierte. An diesem einsaitigen Instrument mit verschiebbarem Steg soll er untersucht haben, warum manche Töne besser zusammenpassen als andere. Seine Antwort fand Pythagoras im Zahlenverhältnis der Schwingungsfrequenzen. Halbiert man etwa die Saite und verdoppelt damit die Frequenz (Zahlenverhältnis 2:1), so erklingt im Bezug auf den Grundton eine Oktave. Auch die nächsten einfachen Frequenzverhältnisse liefern mit der Quinte (3:2) und der Quarte (4:3) weitgehend reibungsfreie Klänge. Höherzahlige Verhältnisse dagegen galten von Pythagoras bis in die Renaissance als unvollkommen bis dissonant. Etwa die kleine Sekunde mit ihrem Frequenzverhältnis von 16:15.

Tatsächlich lässt sich dieses System nicht nur mit Pythagoras’ Faible für Zahlen erklären, sondern auch durch die Physik der Obertöne, die in fast jedem natürlich erzeugten Ton zu finden sind. Der ist nämlich bereits ein Tongemisch, in dem die Grundschwingung von weiteren Schwingungen überlagert wird. Auf Saiteninstrumenten lassen sie sich als sogenannte Flageolett-Töne herauskitzeln, indem man durch leichtes Auflegen eines Fingers an den von Pythagoras entdeckten Stellen zwar die Grundschwingung, nicht aber die Obertöne abdämpft. Zu den ersten und am deutlichsten zum Gesamtton beitragenden Obertönen zählen Quinte, Quarte und Oktave. Da sie ohnehin mitschwingen, gibt es wenig Reibung mit einem zweiten Grundton im entsprechenden Abstand, während die Obertöne im Falle einer dissonanten Sekunde dicht beieinanderliegen und dadurch unschöne Schwebungen erzeugen. So weit jedenfalls die Theorie.

Die Physik hilft auch nicht weiter

Doch die ist wie so oft grau. Quarte, Quinte und Oktave allein taugen vielleicht für den Pausengong. Alles andere braucht komplexere Systeme und Tonleitern, deren Struktur sich mit pythagoreischer Zahlenästhetik kaum noch beschreiben lässt. Zumal auch die Physik schnell an ihre Grenzen kommt: Türmt man beispielsweise vom Grundton C zwölf reine Quinten aufeinander, so landet man wider Erwarten nicht wieder bei einem erneuten C, sondern rund einen Achtelton zu hoch.

Dieses „pythagoreische Komma“ stellt Klavierstimmer vor Probleme und ist der Grund für die Existenz „wohltemperierter“ Stimmungssysteme, die auf unterschiedliche Weise versuchen, den pythagoreischen Fehlbetrag möglichst unauffällig auf die Töne der Klaviatur zu verteilen. Das erfordert, minimale Unreinheiten einzelner Intervalle zuzulassen, macht es dafür aber möglich, in mehreren oder gar allen 24 Dur- und Moll-Tonarten zu musizieren, was zum Beispiel Bach in seinem „Wohltemperierten Klavier“ systematisch ausnutzte. Ältere Stimmungen aus der Zeit des Barocks, nach ihren Erfindern als Werckmeister-, Kirnberger- oder Vallotti-Stimmung bekannt, zielen darauf ab, gängige Tonarten wie C-Dur so rein wie möglich klingen zu lassen, Tonarten mit vielen Vorzeichen wie Fis-Dur klingen darin dafür besonders scharf. Auf diesen Unterschieden beruht auch die traditionelle Zuschreibung der sogenannten Tonartcharakteristiken. C-Dur etwa sei „ganz rein“, schrieb Mozarts Zeitgenosse Christian Friedrich Daniel Schubart. „Sein Charakter heißt: Unschuld, Einfalt, Naivität, Kindersprache.“ Fis-Dur galt ihm dagegen als „Grenze der musikalischen Welt.“

Die Tonart des Siegesjubels

Doch bereits im Mittelalter assoziierte man die vier mittelalterlichen Kirchentonarten Dorisch, Phrygisch, Lydisch und Mixolydisch mit den Temperamenten phlegmatisch, cholerisch, sanguinisch, melancholisch. Ob sich das objektiv begründen ließe, darüber stritten schon Schubarts Kollegen. Dass etwa D-Dur nach Schubart zur Tonart „des Hallelujas, des Kriegsgeschrey’s, des Siegesjubels“ und zur bevorzugten Tonart für festliche Anlässe wie Weihnachten oder Krönungsfeiern wurde, dürfte weniger mit seinem spezifischen Klang zu tun haben als mit der Tatsache, dass die für eine barocke Jubelinstrumentierung beliebten Trompeten auf den Grundton D gestimmt waren und deshalb mit dieser Tonart am leichtesten zurechtkamen. Das gilt übrigens auch für die Flöten des Irish Folk, in dem Stücke in D-Dur ebenfalls überrepräsentiert sind.

Was auch immer zu Schubarts Zeiten an Tonartcharakteristiken objektiv dran gewesen sein mag – die heute übliche gleichstufige Stimmung dürfte ihm den Garaus gemacht haben. Sie teilt reine Oktaven in zwölf genau gleich große Halbtonschritte auf, mit der Folge, dass alle anderen Intervalle eigentlich leicht unsauber klingen. Dass wir heute die darin enthaltenen leicht unreinen Quinten und Terzen klaglos hinnehmen, zeigt, wie sehr Hörgewohnheiten mitbestimmen, was wir als wohlklingend wahrnehmen.

Kann man Zwölftonmusik zu lieben?

Ohnehin lebt Musik jenseits von „Last Christmas“ gerade davon, dass sie die Grenzen von Wohlklang und Hörerwartung ausreizt und erweitert. So gesellten sich in der Renaissance Terzen und Sexten in den auserwählten Zirkel der konsonanten Intervalle und bereiteten der Unterscheidung von Dur- und Moll-Tonarten den Weg. Wenig später wurde der Dominantseptakkord populär, obwohl er zwischen der großen Terz und der kleinen Septime das „Teufelsintervall“ des Tritonus enthält, der Pythagoras mit einem Frequenzverhältnis von 729:512 Albträume bereitet hätte. Seit der Renaissance nutzen Komponisten aber ebendiese Spannung aus, indem sie sie im umso größeren Wohlgefallen eines eine Quart höher angesiedelten Akkords auflösen.

Die Grenzen ganz einzureißen war das Ziel Arnold Schönbergs, der am Beginn des 20. Jahrhunderts die „Emanzipation der Dissonanz“ ausrief. Er war überzeugt, dass musikalische Ästhetik allein das Ergebnis erlernter Kulturtraditionen sei, Menschen demnach auch beizubringen sei, seine Zwölftonmusik zu lieben. So richtig Erfolg hatte er damit nicht, was damit zusammenhängen könnte, dass Grenzverletzungen vor allem dann spannend sind, wenn es noch Grenzen gibt. Konzertgänger mögen Schönbergs Zwölftonmusik interessant finden, Genuss und emotionalen Zugang finden auch hundert Jahre später die wenigsten.

Neues sorgt für Gänsehaut

Dennoch ist schon die Einordnung dessen, was „schöne“ Musik ausmacht, zumindest partiell subjektiv. Umso schwerer fällt es, allgemeingültige Regeln dafür zu finden, welche Elemente der Musik welche Emotionen auslösen. Aus der Perspektive der Psychologie beschäftigen sich viele Forscher mit der Frage, wie und warum Musik unter die Haut geht. Die meisten Antworten sind dabei recht allgemein gehalten: In allen Musikkulturen der Welt scheinen langsames Tempo, geringe Lautstärke und tiefe Töne zu einer verhaltenen Grundstimmung zu gehören.

In Studien mit westlichen Hörern zeigten sich einige typische Elemente, die halbwegs verlässlich Gänsehautgefühle auslösen: Plötzliche Unterschiede in der Lautstärke, Harmoniewechsel, das Einsetzen eines neuen Melodieinstruments gehören dazu. Das funktioniert am besten, wenn die Probanden die betreffenden Stücke bereits kennen und die entsprechenden Stellen mit wohliger Vorfreude antizipieren. Offenbar ist es der Beginn von etwas Neuem, der beim Hören die stärksten Gefühle auslöst.

Die Art dieser Gefühle ist schon wieder sehr viel schwerer zu beschreiben. In vielen psychologischen Experimenten können Probanden das Gehörte lediglich auf einer Skala zwischen „fröhlich“ und „traurig“ bewerten. Daneben wird zuweilen noch der beruhigende oder anregende Charakter eines Musikstücks erfasst. Dabei ist Trauer als musikalisches Gefühl nicht unbedingt negativ besetzt. Detaillierte Einschätzungen der Gefühlsreaktion auf Musik fragen nur wenige Studien ab. Besonders oft werden Emotionen wie Glück, Ruhe, Nostalgie, Liebe oder Hoffnung genannt.

Trotz einiger Gemeinsamkeiten zeigen solche Experimente vor allem, wie stark die emotionale Wahrnehmung von Musik vom Individuum abhängt, von seinen Persönlichkeitsmerkmalen, seiner aktuellen Stimmung und seinen Vorkenntnissen. So rührt „Alabama“, ein nur wenige Minuten langes Kleinod im Werk von John Coltrane, umso mehr, wenn man weiß, dass der Jazz-Saxophonist mit der pentatonischen Melodie, die sich über einem tiefen Tremolo des Klaviers entfaltet, einen Bombenanschlag des Ku Klux Klan auf eine Kirche in Alabama verarbeiten wollte, bei dem 1963 vier kleine Mädchen starben.

Aber auch positive Assoziationen machen oft erst die Musik. Insbesondere dieser Tage. Bei Kerzenschein und Plätzchenduft klingen Krippenlieder oder das Weihnachtsoratorium noch einmal so schön – und selbst „Last Christmas“ wird für ein paar Wochen halbwegs erträglich.

Quelle: F.A.S.
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