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75 Prozent weniger Insekten

„Wir befinden uns mitten in einem Albtraum“

Von Joachim Müller-Jung
18.10.2017
, 20:00
Monokulturen und der Einsatz von Agrarchemikalien stehen im Verdacht als Auslöser des Insektenschwunds. Bild: dpa
Das Insektensterben lässt sich nicht mehr abstreiten. Der oft kritisierte Krefelder Entomologen-Verein hat jetzt in einer Langzeitstudie gezeigt: Die Populationen sind seit der Wende um drei Viertel geschrumpft. Welchen Anteil hat die Landwirtschaft, welchen das Klima?

Das Insektensterben in Deutschland ist ganz offensichtlich nicht die Erfindung einzelner Insektenliebhaber oder Entomologen-Vereine, wie das nach einer Anhörung im Bundestag vor anderthalb Jahren und in einigen Medienberichten behauptet worden war. Jetzt kommt eine von Caspar Hallmann von der Radboud-Universität in Nijmwegen geleitete und mit der Unterstützung von ehrenamtlichen Insektenkundlern des Entomologenverieins Krefeld vorgenommene Studie in der Online-Zeitschrift „PlosOne“ zu dem Schluss: Die drastischen Bestandseinbrüchen sind real, sie lassen sich über 27 Jahre mit Standard-Flugfallen für geflügelte Insekten klar nachweisen.

Bei der Erhebungen in 63 deutschen Schutzgebieten zwischen 1989 und 2016 ist ein Rückgang von 76 Prozent (im Hochsommer bis zu 82 Prozent) der Fluginsekten-Biomasse festgestellt worden. Die Verluste betreffen offenbar die meisten Arten, von Schmetterlingen, Bienen und Wespen bis zu Motten und anderen flugfähigen Arten, die praktisch ausnahmslos als Bestäuber von Wild- und Nutzpflanzen oder zumindest als Beutetiere für Vögel wichtig sind. Etwa 80 Prozent der Wildpflanzen sind abhängig von Insektenbestäubung, und 60 Prozent der Vögel in der heimischen Natur ernährt sich hauptsächlich von Insekten.

Das Insektensterben ist auch nicht etwa ein deutsches Phänomen: Seriöse Studien an Bienenpopulationen haben schon früher deutliche Einbrüche in anderen Ländern dokumentiert, und die Graslandschaften in Europa erlebten einen Rückgang der Schmetterlingszahlen um die Hälfte zwischen 1990 und 2011.

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Was genau die Ursache des flächendeckenden Insektensterbens ist, bleibt allerdings nach der ersten Langzeitstudie dieser Art unklar. Die Rückgänge waren allein mit Lebensraumzerstörung, Klimawandel oder Landnutzungsänderungen - und damit auch die Verarmung der Agrarlandschaften - jedenfalls mit den zur Verfügung stehenden Daten nicht zu erklären. Für Josef Settele von der Biozönosenforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle einer der wenigen Schwachpunkte des Langzeit-Monitorings: „Die Autoren konnten nicht alle klimatisch relevanten Faktoren einschließen. Nach ihrer eigenen Aussage sind noch weitere Analysen nötig. Daher kann das Klima als wichtiger Faktor nicht ausgeschlossen werden. Die vereinfachte Darstellung, dass Wetterveränderungen oder Änderungen der Landnutzung den Gesamt-Rückgang nicht erklären können, ist zumindest irreführend.“

Honigbienen werden nicht nur als Bestäuber gebraucht. Bild: © Picstudio _ Dreamstime.com

Settele hält es für „grundsätzlich schwierig, Phänomene des globalen Wandels nach ihren Ursachen aufzuschlüsseln. Zum Beispiel können klimatische Effekte auf der Landschaftsebene, wie höhere Temperaturen, in Kombination mit erhöhtem Stickstoffeintrag zu dichterer Vegetation und dadurch kühlerem Mikroklima führen, was Effekte kaschieren kann“. Die Aufschlüsselung der Arten, die mit der Auswertung der Flugfallen bis nicht üblich war, ist für den Tierökologen aus Halle ein Ansatz, um künftig klarere Ergebnisse auch im Hinblick auf die Aussterbe-Ursachen jenseits der Schutzgebiete zu erhalten. Settele: „Hier stößt das Ehrenamt an seine Grenzen. Überhaupt ist es enorm, was die Autoren bislang geleistet haben. Es ist dringend nötig, derartige Monitorings entsprechend systematisch aufzubauen – als öffentliche Aufgabe mit öffentlichen Geldern!“ Auch Naturschutzexpertin Alexandra-Maria Klein von der Universität Freiburg erinnert an die Lücken, die noch zu schließen sind: „Ob die Abnahme in anderen Ökosystemen, wie zum Beispiel in Agrar- oder Forstsystemen, ähnlich aussieht, kann anhand dieser Studie nicht gesagt werden. Es könnte sein, dass in anthropogen genutzten Ökosystemen große Schädlingspopulationen die Gesamtbiomasse hochhalten.“

Die Fleißarbeit der Krefelder Insektensammler wird von den Ökologen durchweg gelobt. Für Teja Tscharntke, Agrarökologe an der Georg-August-Universität Göttingen „hinterlassen die Auswertung und die Resultate einen soliden, überzeugenden Eindruck.“ Der dramatische Insekten-Rückgang zeige, „dass Schutzgebiete in nur noch sehr geringem Maße als Quellhabitate für die Besiedlung der Agrarlandschaften dienen können.“

Der Zoologe Johannes Steidle von der Universität Hohenheim wird noch deutlicher: „Die Ergebnisse der Untersuchung sind schockierend. Die kleine Hoffnung, dass die vorab bekannt gewordenen, beunruhigenden Informationen in der Publikation möglicherweise relativiert werden – zum Beispiel, weil sich die Arbeit als fehlerhaft erweist – ist zerstört! Die Arbeit ist methodisch sauber und zeigt flächendeckend für eine große geografische Region Mitteleuropas einen massiven Biomasserückgang für Insekten. Wir befinden uns mitten in einem Albtraum, da Insekten eine zentrale Rolle für das Funktionieren unserer Ökosysteme spielen.“

Das mittlere Gewicht der pro Tag gefangenen Insekten hat seit 1989 um mehr als 75 Prozent abgenommen. Bild: Radboud University
Quelle: F.A.Z.
Joachim Müller-Jung
Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.
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